"könn­te den gan­zen Tag kot­zen" Ein Tage­buch von 1990

Das deutsch-deut­sche Geden­kri­tu­al zum 3. Okto­ber fiel in die­sem Jahr mit poli­ti­schen Erd­rut­schen bei Land­tags­wah­len zusam­men. Wir schlie­ßen uns dem der­zei­ti­gen Medi­en­trend an und ver­öf­fent­li­chen nach­ste­hend einen bemer­kens­wer­ten Hal­len­ser Tage­buch­aus­zug vom Febru­ar 1990 als Rückblende:

 

Die Ereig­nis­se im Länd­chen über­schla­gen sich. Ängs­te wach­sen und Wut auch. Ich will sie mir von der See­le schrei­ben und den­ke, mei­ne Gedan­ken wer­den mal eine inter­es­san­te Chro­nik sein.

In einem Monat sind Wah­len. Jeden Tag wer­den neue Ver­ei­ni­gun­gen gebil­det. Irgend­wie wol­len sie alle das glei­che: Ein­heit, Demo­kra­tie, sozia­le Markt­wirt­schaft – öko­lo­gisch ver­steht sich.

Dabei zer­split­tern sich die lin­ken Kräf­te immer mehr – ein Bünd­nis mit der noch stärks­ten Kraft (SED -) PDS – undenk­bar. War­um? Die sind eben nicht popu­lär. Ich mei­ne aber, die ech­ten „Wen­de­häl­se“ haben sich längst ande­ren Par­tei­en zuge­wen­det. Die Kar­rie­ris­ten sind raus – der Rest sind arme dum­me Idea­lis­ten, wie mei­ne Mut­ter zum Beispiel..

Wie wird es wer­den? Grob gesagt. Die Hälf­te der Bevöl­ke­rung wird das tun, was sie seit eh und je tut: Abwar­ten, was die da Oben sagen. Und das tun, was die da Oben sagen. Dafür wird es ihr etwas bes­ser gehen als bis­her. Sie wer­den wei­ter rei­sen kön­nen und sie wer­den etwas dar­stel­len dür­fen, weil sie sich dann als echt DEUTSCH füh­len dür­fen. Sie gehö­ren zum reichs­ten Land Europas.

"Ich war so optimistisch!
End­lich konn­te man sich entfalten!
Und nun wird man im Hand­um­dre­hen in ein neu­es Sche­ma gepresst"

Im Fern­se­hen läuft eine Faschings­sen­dung. Man hat eigens den Schnul­zensän­ger Gun­ter Gabri­el aus der Ver­sen­kung geholt. Er durf­te ein Lied über Deutsch­land sin­gen – ein Lied das „posi­tiv ist und die kal­ten Füße aus der Ver­gan­gen­heit ver­ges­sen machen soll“ – er bekam jede Men­ge Bei­fall. Der Bei­trag pass­te wie die Faust aufs Auge zu mei­nen Gedan­ken. Ein Deut­scher – wie stolz das klingt! Es ist zum Kot­zen. Ich könn­te den gan­zen Tag kot­zen. Bald nun gehö­re ich zu dem über­heb­li­chen Volk. Ich wür­de mich lie­ber als Euro­pä­er füh­len oder eben ein­fach nur als Mensch. Im Grun­de tue ich das auch. Ich gehö­re nicht dazu. So wie das eine Vier­tel der ande­ren Hälf­te. Das sind die, die gegen ihren Wil­len ange­glie­dert wer­den. Das zwei­te Vier­tel sind die, wel­che künf­tig das Sagen haben wer­den. Anglie­de­rung – genau davon sprach heu­te Hei­ner Geiß­ler (CDU West) auf einer Wahl­kund­ge­bung. Vor einem Monat hät­te er dazu auch noch Ver­ei­ni­gung gesagt. Ja, die­se Anglie­de­rung ist noch die­ses Jahr drin und unse­re neue Regie­rung wird nur eine Über­gangs­re­gie­rung sein. Denn bereits im Dezem­ber DÜRFEN wir gemein­sam mit den Bun­des­bür­gern eine Regie­rung für ganz Deutsch­land wäh­len. Vor­her MÜSSEN wir natür­lich die Bun­des­ver­fas­sung annehmen!!!

 

Mir ist schlecht! Und ich kann schon nicht mehr kot­zen! Ich könn­te über­ko­chen vor Wut! „Wir sind das Volk!“ Damit hat alles ange­fan­gen. Ich war so opti­mis­tisch! End­lich konn­te man sich ent­fal­ten! Und nun wird man im Hand­um­dre­hen in ein neu­es Sche­ma gepresst – in ein noch viel raf­fi­nier­te­res, viel grau­sa­me­res – diri­giert vom Geld.

Und unse­re Men­schen jubeln die­sem Bun­des­kanz­ler Kohl zu und schrei­en „Hel­mut!, Hel­mut!“ - weil er ein Bun­des­deut­scher ist, sich zu uns her­ab­lässt und die D-Mark ankündigt.

Ich habe ein wenig Hoff­nung. Die ande­ren sind nahe­zu ein Vier­tel … Aber eben zer­split­tert. Wenn sie sich irgend­wie eini­gen könn­ten, wäre es viel­leicht mög­lich, einen Teil der gro­ßen, grau­en Mas­se hin­ter sich zu brin­gen. Es gibt Bewah­rens­wer­tes aus 40 Jah­ren DDR in Bil­dung, Kul­tur, Sport – Ein­rich­tun­gen und sozia­le Ver­güns­ti­gun­gen für Kin­der und Jugendliche.

Da kommt nichts bei raus, bringt kei­nen Gewinn, man muss nur rein­wirt­schaf­ten! Also: WEG DAMIT! So ist die Ten­denz. Es hat schon ange­fan­gen. Da wer­den Pio­nier­la­ger geschlos­sen. Mein Mann, Stu­dier­ter Trai­ner von Beruf muss Angst um sei­ne Arbeit haben. Jede Schu­le wird künf­tig selbst fest­le­gen, was und mit wel­chen Büchern gelernt wird – ganz wie im Westen.

Mod­row (Noch-Vor­sit­zen­der des Minis­ter­ra­tes der DDR) hat einen neu­tra­len Sta­tus für ein eini­ges Deutsch­land vor­ge­schla­gen. Das kommt für Kohl nicht in Fra­ge. Ganz Deutsch­land gehört zur NATO! Sol­len die Polen doch schimp­fen wie die Rohr­spat­zen! Die wer­den bei ihrer kata­stro­pha­len wirt­schaft­li­chen Lage nicht mehr lan­ge wider­spre­chen. (Viel­leicht kom­men sie dann auch von selbst bald heim ins Reich?)

"War­um kann Deutsch­land nicht neu­tral sein?
Das müss­te doch in den Augen
der ande­ren Völ­ker das Bes­te sein!"

SPD sagt: „Neu­tral ist gefähr­lich, aber ganz Deutsch­land in der NATO auch. Also bleibt West­deutsch­land drin, erst­mal – bis neue Sicher­heits­ga­ran­tien für Euro­pa da sind.“ Wahl­kampf­tak­tik! Über­haupt sind die raf­fi­niert in ihrem Wahl­kampf die Brü­der. Behan­deln uns nicht gar so her­ab­las­send, kri­ti­sie­ren die Regie­rung Kohl, weil sie uns schnel­le Hil­fe ver­sagt. Dem Bun­des­tags­an­trag der Grü­nen auf Sofort­hil­fe haben sie dann aber auch nicht zuge­stimmt, da er ihnen zu hoch war.

Ich weiß nicht mehr, wer es gesagt hat. Mein Vater ver­mut­lich: „Die wol­len uns nicht mal mehr auf Knien, die wol­len uns auf dem Bauch!“ Damit ja nichts mehr rück­gän­gig zu machen geht und das Geld nicht umsonst rein­ge­steckt wird. Jeden Tag gehen Tau­sen­de von uns über die Gren­ze. Die Bür­ger drü­ben wer­den schon sau­er. Es herr­schen Woh­nungs­not und Arbeits­lo­sig­keit. Die schie­ben dem Ein­wan­dern kei­nen Rie­gel vor. Noch nicht. Erst müs­sen wir hier nahe­zu aus­ge­blu­tet sein.

Auf in die Demo­kra­tie! Sie lebe hoch!

War­um kann Deutsch­land nicht neu­tral sein? Das müss­te doch in den Augen der ande­ren Völ­ker das Bes­te sein! Kei­ne Waf­fen mehr auf deut­schem Boden! Zu schön wäre das! Soll aber nicht sein. Ich den­ke sowie­so, dass der Ost- West- Kon­flikt mehr und mehr in den Hin­ter­grund gerät. Der Nord – Süd – Kon­flikt wird sich ver­schär­fen. Es ist ent­setz­lich, wie Mil­lio­nen Men­schen in der drit­ten Welt vege­tie­ren und die euro­päi­schen Staa­ten, die USA und Japan wer­den immer rei­cher. Bei uns soll alles getan wer­den, um die öko­lo­gi­sche Situa­ti­on zu ver­bes­sern. Unser Gift­müll kommt nach Süden. Hier ist er uns zu gefähr­lich. Wie kurz­sich­tig ist die­ses Han­deln? Je mehr dort unten durch hem­mungs­lo­sen Raub­bau die Umwelt geschä­digt wird, des­to grö­ße­re Aus­wir­kun­gen wird das eines Tages auf uns haben.

Wenn das gro­ße Geld nicht anders ver­teilt wird, dann wird es bald nie­man­dem mehr nut­zen. Gar niemanden.

 

 

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