Die enttäuschten Mitbewerber verstehen nur Bahnhof. „Bin maßlos enttäuscht und kann die Entscheidung der Jury überhaupt nicht nachvollziehen“, schrieb ein Betroffener in den sozialen Medien. Halle hat den Zuschlag für das „Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“ bekommen. Was hat die Saalestadt, was Mitbewerber wie Frankfurt/Oder, Jena und Plauen nicht zu bieten haben?
Bahnhofsareal als Transformations-Joker
Sicher, Halle hat die Leopoldina, die Moritzburg und die Kneipen in der Kleinen Ulrichstraße, es hat die umliegenden Kohle- und Chemiereviere, die sich in Transformation befinden, aber auch die Mitbewerber haben einiges aufzubieten. Ein wichtiger Faktor für die Entscheidung war, so lässt sich aus den offiziellen Statements ableiten, die günstige Verkehrsanbindung. Halle war schon in der DDR ein zentrales Eisenbahnkreuz. Heute braucht der ICE eine Stunde nach Berlin, eine halbe nach Erfurt, Leipzig liegt quasi vor der Tür. Damit erwies sich die Bahnhofsgegend – eine der unattraktivsten Stellen der Saalestadt – überraschend als Joker.
Ich erinnere mich noch an ein Gespräch mit einem westdeutschen Bekannten über meine Heimatstadt. Er sei an Halle vorbeigefahren mit dem Zug, berichtete er. Die ganze Zeit habe er wie gebannt aus dem Fenster geschaut: „Wahnsinn, hier sieht es aus, als wäre immer noch Krieg!“ Das muss so um das Jahr 2000 gewesen sein. Etwa zur gleichen Zeit versuchte sich der ambitionierte Stadtplaner Friedrich Busmann an der Umgestaltung des Riebeckplatzes, die leider nicht dazu führte, dass die Aufenthaltsqualität des Ortes nachhaltig aufgebessert werden konnte.

Abrissarbeiten am Riebeckplatz 2011 Foto: Ralf Lotys
Mit gutem Recht konnten die halleschen Bewerber den Riebeckplatz als Ort, der sich in der Transformation befindet, beschreiben – und genau das war es, was die Ausschreibung für das Zukunftszentrum ausdrücklich suchte. Nun wird das Bahnhofs-Areal einer erneuten Transformation unterzogen, und es bleibt zu hoffen, dass in dem bald stattfindenden Architekturwettbewerb Lösungen gefunden werden, die den ganzen Platz als Ensemble zu transformieren vermögen und ihm nicht nur ein paar Betonklötze hinzufügen. Stadtplaner Busmann hatte den Riebeckplatz einst als städtebauliche Wunde bezeichnet, und als solche war der Ort über Jahrzehnte das wenig verlockende Eingangsportal für eine gedemütigte, zu kurz gekommene Stadt.
Magdeburg machte 1990 das Rennen
Als es 1990 darum ging, dem Land Sachsen-Anhalt eine Hauptstadt zu geben, machte Magdeburg das Rennen. Ironischerweise war es damals auch die Verkehrsanbindung, der kurze Weg nach Hannover, der den Ausschlag gab. Wenig später wurde Halle zum Hotspot der Vereinigungskriminalität. Kaum eine andere Zweigstelle der Treuhand verursachte mehr Skandale als die hallesche Niederlassung. Halle hat in der Transformation bittere Lektionen lernen müssen, zehntausende Einwohner und unzählige Arbeitsplätze verloren. Nun ist zumindest partielle Wundheilung in Sicht.
Ironischerweise war es damals auch die Verkehrsanbindung,
der kurze Weg nach Hannover, der den Ausschlag gab.
Wenig später wurde Halle zum Hotspot der Vereinigungskriminalität.
Man kann es durchaus als einen Akt historischer Gerechtigkeit ansehen, dass der Bund jetzt 200 Millionen Euro an einem Ort investiert, an dem die Fehler der Wiedervereinigung unübersehbare Spuren hinterlassen haben.
Längst überfällige Wertschätzung
Das Zukunftszentrum, das im Jahr 2028 seine Arbeit aufnehmen und jährlich mit 40 Millionen Euro aus dem Bundeshaushalt gefördert werden soll, ist eine längst überfällige Wertschätzung für eine Stadt, die sich in der Vergangenheit nicht über einen Mangel an negativen Stereotypen beklagen konnte. Halle ist eine kreative Stadt, die sich nicht so leicht unterkriegen lässt. Was viele nicht wissen: Halle ist eine Stadt, deren Reize man oft erst auf den zweiten Blick entdeckt. Als Geburtsstadt von so verschiedenen Persönlichkeiten wie Händel oder Heydrich, Genscher oder Struensee ist die Stadt ambivalent genug, um eine reizvolle Kulisse für das Prestigeobjekt des Bundes abzugeben.
Es geht keineswegs nur um Tourismus,
sondern auch um Stadtentwicklung
Das Zukunftszentrum soll direkt am Bahnhof entstehen, in der Hoffnung, dass die Reisenden im ICE von München nach Berlin aufblicken, und demnächst auch mal aussteigen und sich die Saalestadt ansehen werden. Doch es geht keineswegs nur um Tourismus, sondern auch um Stadtentwicklung. Aufhorchen lassen die Pläne der Stadt, gleichzeitig auf dem Gelände des ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerks, auf der anderen Seite der Gleise gelegen, ein modernes Stadtviertel aus dem Boden zu stampfen.
Keine Zukunft ohne Diskurs
Wie die konkrete Arbeit des Zukunftszentrum aussehen wird, kann heute noch niemand sagen. Es gibt formelhafte Absichtserklärungen wie die, dass hier Geschichtsbewusstsein vermittelt werden soll, das sich für die Zukunft einsetzt. Und dass das Zentrum weniger ein Museum und mehr ein Forum für Dialog werden soll. Immerhin haben die Organisatoren durch die Einbindung zahlreicher zivilgesellschaftlicher Akteure ein Zeichen dafür gesetzt, dass das Zentrum nicht von außen und oben „aufgedrückt“ wird. Wieviel von der bisher nur inszenierten demokratischen Teilhabe im Verlauf der Planungen übrig bleibt, wird man sehen. Es besteht zumindest theoretisch die Chance, dass hier ostdeutsche Erfahrungen von 1989 fruchtbar gemacht werden. Damals hatte das Neue Forum konstatiert: „In unserem Land ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichlich gestört.“ Heute plagt uns dieses Problem der Diskursverweigerung in anderer Form, aber nicht weniger heftig. Eine große Chance des Zukunftszentrums bestünde darin, zu einem Ort des freien Meinungsstreites und der konstruktiven Kritik zu werden. In Halle könnte eine Art „Think Tank“ entstehen, wo nach Lösungen für Probleme von globaler Reichweite gesucht wird. Das kann aber nur gelingen, wenn das Projekt nicht von einer Seite des Meinungsspektrums usurpiert wird.
Udo Grashoff
Vielleicht trug er mit zur Standortentscheidung bei: Der Eierwurf von Halle 1991