Die Elsa - Brändström - Straße gibt es in Halle seit dem Jahr 1931. Und auch in mehr als 150 weiteren deutschen Städten wurde irgendwann eine Straße nach ihr benannt. Welche Geschichte steht hinter diesem Namen, den wir in Halle tagtäglich an der TRAM-Linie 8 zu lesen bekommen?
Trotha, Kröllwitz oder Reideburg - Die Bezeichnung von Stadtteilen, wie sie uns an Bus und Bahn angezeigt werden, haben meist einen konkreten Bezug zur Stadtgeschichte. Anders ist das manchmal bei Persönlichkeiten, nach denen Straßen benannt werden.
Im Jahr 2000 warb die Hallesche Uni mit der Aktion „Steine für den Campus“ Geld ein für Gedenksteine, welche die Namen bedeutender Wissenschaftler und Professoren der 500järigen Universitätsgeschichte tragen sollten. Gute Idee, dachte ich und spendete 300 DM für einen Stein zu Ehren der Ehrensenatorin Elsa Brändström. Schließlich stand ihr Name seit gefühlt einhundert Jahren an der Straßenbahnlinie 3, damals noch Brandström. Es kostete mich aber etwas Mühe, dass für sie und weitere sechs Frauen erst noch Steine erworben werden mussten. Denn es waren zunächst hauptsächlich Männernamen für die Steine vorgesehen. Als dann der Courage e.V. für den Festumzug im Jahre 2006 FrauenZimmerGeschichten lebendig werden lassen wollte, wählte ich wiederum Elsa Brändström aus, um mich endlich tiefer mit dieser Persönlichkeit zu beschäftigen.
Als ich geboren wurde, wohnten wir in der Elsa-Brändström-Straße, und meine Mutter erwähnte häufig diese Frau, die auch „Sibirischer Engel“ genannt wurde, was älteren Leuten noch geläufig sein dürfte. Elsa war Krankenschwester an der Front im 1. Weltkrieg. Meine Mutter war Krankenschwester an der Front im 2. Weltkrieg. Ich wuchs also auf mit Fotos von Krankenschwestern an Kriegsfronten und Kriegslazaretten. Das Foto, das ich von diesem „Engel“ zu sehen bekam, bereitete mir Unbehagen. Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb wollte ich in diese Rolle schlüpfen, herausfinden wer diese Elsa Brändström war. Kaum jemand wusste noch, dass diese Frau Anfang im Jahr 1921 zur ersten Ehrensenatorin der Hallischen Universität ernannt wurde. Wie kam es dazu?
Eine Elsa-Brändström-Straße gibt es nicht nur in Halle, sondern auch in 153 weiteren deutschen Städten. Weiterhin existieren 51 Gebäude, Schulen, oder Gedenkstätten, die ihren Namen tragen. Nicht genug der Ehrung wurde vom Bildhauer Schulze-Mittendorf 1921 eine Gedenkmünze für sie gefertigt, 1951 eine Briefmarke mit ihrem Porträt heraus gegeben, zahllose Artikel über sie verfasst, 30 Biografien erschienen, ein missglückter Liebesroman, sowie zwei Filme. Wikipedia wurde erst 2001 eingerichtet. Ich musste also in Archiven und anderweitig auf Spurensuche gehen. Ein Exemplar der Erstausgabe ihrer Tagebuchaufzeichnungen „Unter Kriegsgefangenen in Russland und Sibirien 1914-1920“ von 1922 konnte ich von einem Herrn aus Essen ergattern, allerdings völlig zerfleddert. Nach seinem Erscheinen hatte dieses Buch in Kürze fünf weitere Auflagen erlebt und wurde auch in den USA gehandelt.
Was treibt Frauen im Krieg an die Front?
Das Foto von ihr, welches uns heute bei Wikipedia als erstes begrüßt, zeigt Elsa mit der damals üblichen Schwesternhaube, in der ich sie anfänglich nicht lieb gewinnen konnte. Meine Mutter in ihrer Schwesterntracht des Deutschen Roten Kreuzes gefiel mir besser.
Was trieb Frauen im Krieg an die Front, um zu helfen? Von meiner Mutter wusste ich, dass ihr Verlobter - ein Flieger - beim ersten Angriff der deutschen Luftwaffe auf Warschau ums Leben kam. Sie hatte ihren Geliebten verloren, der 'für Volk und Vaterland' in den Krieg zog. Ihre Ausbildung danach zur Krankenschwester bei der Wehrmacht war für sie vor allem ein sozialer Aufstieg. Auch sie rettete deutschen Soldaten das Leben.
Welchen Beweggrund aber hätte eine schwedische Rot-Kreuz-Gesandte haben können, um ausgerechnet deutsche Soldaten zu retten?
Aus fast jedem Artikel sprang mir eine Heroisierung von Elsa Brändström entgegen. 100.000 deutschen Soldaten soll sie das Leben gerettet haben. Dafür wurden ihr insgesamt drei Ehrendoktortitel verliehen: Theologie in Königsberg, Rechtswissenschaften in Tübingen und Medizin in Uppsala. Der „Sibirische Engel“ war im Übrigen eine Bezeichnung, die sie selbst nicht so toll fand. Wer war nun diese Frau, die in Kriegsjahren zu so viel Ruhm gelangte und vergöttert wurde?
Als ich Elsa Brändström auf einem Foto mit zwei uniformierten Männern betrachtete, kam mir die Vermutung, dass sie möglicherweise einen deutschen Geliebten hatte, den sie aber - ähnlich wie meine Mutter – im Krieg verlor. Hinweise dazu konnte ich nicht finden. Elsa Brändström wurde am 26. März 1888 am Hofe des Zaren in Petersburg geboren. Ihre Mutter, eine verwitwete Gräfin, war mit einem schwedischen Militärattaché verheiratet der später General wurde. Bis zum dritten Lebensjahr versorgte eine russische Amme das Kind, weil die Mutter etwas schwächelte. Die weitere Kindheit verbrachte Elsa unbeschwert mit den Eltern und zwei jüngeren Brüdern in der schwedischen Kleinstadt Lingköping.
Elsa war wohl eine typische „Vatertochter“. Wie ihre Brüder ging sie zum Rodeln, Ski laufen und Bergsteigen, spielte Tennis und Kricket. Alle Brändström-Kinder durften zu Hause ihre Meinung äußern und sogar bei Tisch reden. Um 1900 war das oppositionell. Als 15-Jährige war Elsa geistig und sozial frühreif. Für Jungs zeigte sie kein Interesse, wusste auch nicht wo die Babys herkamen, oder tat zumindest so. Auf der Brust trug sie eine Brosche, um zu zeigen wo vorn ist. Dennoch trat sie sehr resolut auf. Beim Schlittenfahren ermutigte sie ihre ängstliche Freundin; im Unterricht sprang sie einer Lehrerin in einer Ohnmachtssituation zu Hilfe, aber ein Glanzlicht in der Schule war sie nicht. Elsa wollte Lehrerin werden und besuchte die Vorschule sowie die höhere Töchterschule.
1906 übernahm ihr Vater die schwedische Gesandtschaft im kaiserlichen Petersburg. Seine Frau ging mit ihm. Für Elsa aber war es aus Sicht der Eltern noch zu früh für ein Leben bei Hofe. Sie war ihnen noch nicht 'salonfähig' und sollte erst das Lehrerinnenseminar in Stockholm besuchen und ein Examen ablegen. Dort stand sie nicht im Mittelpunkt und sie lernte sich zu ducken. „Aufgaben lernen halte ich für verfehlte Frauenarbeit“, notierte sie eigensinnig im Tagebuch, wo sie auch Aphorismen wie diesen niederschrieb „Jeder Mensch, dem ich begegne, interessiert mich mehr als ein Roman. Warum soll ich Romane lesen?“ Insgesamt empfand sie diese Lebensspanne als dunkle Zeit, doch Geldsorgen gab es nie. Eine Lehrerin fällte ein bemerkenswertes Urteil: „….sie sei vielleicht für Amerika geeignet, in Schweden und ganz Europa sei für sie eine Zukunft nicht möglich….“
Beobachtungen und Erfahrungen bei Hofe
Nach dem Examen als Lehrerin folgte Elsa Brändström ihren Eltern in ihre Geburtsstadt St. Petersburg. Am Finnischen Bahnhof wurde sie von einem Kutscher abgeholt, und es entging ihr nicht, wie dick dieser gekleidet war und dass er bei minus 40 Grad draußen warten musste. Zwei Millionen Menschen lebten damals in der Zarenmetropole – unter ihnen leichtsinnige Fürsten, Gutsbesitzer, Wissenschaftler, Schriftsteller, Politiker, Spitzel und Agenten. Auch im Hause des schwedischen Gesandten wusste man, dass Diener von der russischen Geheimpolizei bezahlt wurden. Nicht nur Russen hatten sich in die Stadt an der Newa geflüchtet. Ihre Bewohner kamen aus allen europäischen Ländern: aus Polen, aber viele auch aus Deutschland oder Frankreich, um ihr Schäflein ins Trockene zu bringen.
Dass es 1905 bereits eine Revolution gegeben hatte, wurde verdrängt. Man amüsierte sich bei Hofe, übte Boston auf Rollschuhen, spielte Bridge, traf sich zum Empfang im Winterpalais, besuchte die Oper, genoss Schlittenfahrten und tanzte auf Bällen ausgelassen bis zum Schluss, wo kostbares Porzellan zerbrach und duftende Rosenmengen verteilt wurden. All das faszinierte Elsa. Sie liebte ihre Kleidung und ihre Juwelen und genoss es, bewundert zu werden. Aber ihr entgingen auch nicht die ärmlichen Dienstbotenunterkünfte, und sie verglich sie mit ihrer eigenen Kleidung, welche ein Vermögen kostete. Nächtliche Hausdurchsuchungen bemerkte sie, bei denen Dienstboten verhaftet und nach Sibirien verbannt wurden – ein Tabuthema in ihren gesellschaftlichen Kreisen.
1913 starb ihre Mutter und Elsa übernahm die Aufgaben, die einer Frau an der Seite eines Diplomaten zukamen. In der Rolle der Hausdame empfing sie Gesandte, Politiker, Künstler und den letzten Ministerpräsidenten des Zaren, Goremykin. Sie trat als Repräsentantin ihres Landes auf und hatte die Ehre, Selma Lagerlöff durch St. Petersburg zu begleiten. Von der Nobelpreisträgerin begeistert, eröffnete sie ihr, dass sie sich sehne, das Vergnügungsleben zu verlassen und etwas aus eigener Kraft zu werden und ihre Gaben dafür einzusetzen.
Im ersten Weltkrieg
Im Jahr 1914 hatte die Schicksalsstunde für Abermillionen geschlagen. Im Sommer, zu Beginn des Krieges, weilte Elsa zu Besuch in England und reiste sofort auf einem überfüllten Schiff über Schweden nach dem inzwischen russifiziertem Petrograd. 250.000 Reichsdeutsche waren in Russland sofort verhaftet worden, kamen ins Gefängnis oder in die Verbannung nach Sibirien.
Wäre Elsa Russin gewesen, wäre die mutige Revolutionärin Wera Figner, die sich wehrte eine schöne Puppe zu sein und sich am Attentat auf den russischen Zar Alexander II. Beteiligte, ein Vorbild für sie gewesen. So zumindest waren ihre Tagebuchgedanken.
Im verfeindeten Berlin musste Käthe Kollwitz damals mit ansehen, wie alle jungen Männer von einem Massenrausch ergriffen wurden - “einem widernatürlichen heraufgeschraubten Seelenzustand“. Die Künstlerin beobachtet, wie junge lachende Mädchen den Kriegsfreiwilligen Blumen und Erfrischungsgetränke in die Zugabteile reichten, bevor sie dann wenig später zu zehntausenden in Flandern fielen.
In St. Petersburg schritt Elsa Brandström zur Tat und meldete sich mit einer Freundin, der Frau eines schwedischen Legationsrates, bei der russischen Armee für eine privaten Krankenpflegekurs im Nikolai Hospital an. Sie waren neutrale Ausländerinnen und sammelten Kleider und Medikamente, Florence Nightingales Worte im Ohr: „Barmherzige Schwestern dürfen nicht wie Engel ohne Hände zwischen Patienten umher schweben.“
Die Männer ringsum wollten auf sichere Posten wie Zivilbehörden und Offiziersstäbe.
Da sich in Russland niemand um die deutschen Kriegsgefangenen kümmern wollte, knüpfte Elsa Kontakte über den schwedischen Gesandten in Berlin, zu Prinz Max von Baden, der die geforderte Gefangenenfürsorge realisieren sollte, was er auch tat. Elsa hatte eine Auflistung erstellt - eine Rucksackausrüstung, die den deutschen Soldaten (genannt Plenny) über den Winter in Sibirien bringen sollte. Inhalt waren: Zwei Hemden, zwei Unterhosen, zwei Paar Strümpfe, Handschuhe, Pulswärmer, Schal, Taschentücher, Hosenträger, Seife, Löffel, Essschale, Zahnbürste, Kamm, Nähzeug.
Im Oktober 1915 konnte der erste“Liebesgabenzug“, wie die Lieferung genannt wurde, von Deutschland über Schweden nach Petrograd fahren. Von dort ging er in Begleitung eines Pastors,eines Ingenieurs, eines Grafen und der beiden Frauen in Richtung Sibirien – drei Wochen Eisenbahnfahrt! Östlich des Baikalsees herrschte Fleckfiebertyphus. In zwei großen Baracken lebten dort 11.000 Kriegsgefangene. „Halbnackte Menschen, eiserne Betten ohne Stroh, zwei Kranke auf und unterm Bett, keine Decken, keine Kissen, Holz als Kopfpolster, kaum Wasser, und der Arzt stand mit Tränen und leeren Händen da.“
Und das war nicht das einzige Gefangenenlager.
Herrsche und Teile
Als Diplomatentochter hatte Elsa Brändström eines gelernt: Sie wusste, wie man mit Regierenden und Mächtigen umzugehen hatte. Inzwischen knüpfte sie als schwedische Rot-Kreuz- Gesandte Kontakte zur Königin Victoria von Schweden, Kaiserin Auguste Viktoria von Deutschland und Kaiserin Zita von Österreich-Ungarn und bat diese um Hilfe, vor allem um Geld. Mit 30.000 Rubel gelang es ihr, wenigstens die Kranken von den Gesunden im Lager zu trennen. Freiwillige nähten dafür bei minus 40°Grad im Freien Strohsäcke. Zur Erweiterung ihres Hilfswerkes pendelte sie zwischen Moskau und Sibirien hin und her. Charkow, Pensa, Omsk, Krasnojarsk und Novosibirsk waren Stützpunkte, wo sie die Offiziere und Lagerkommandanten zwang, das Elend zu minimieren.
Zu den wichtigsten Hilfen gegen Hunger und Heimweh gehörten Beschäftigungen aller Art, auch Kunst in jeder Form wie Gesang, Musik, Theater. Elsa organisierte Schnitzmesser, Holz, Farben, Textbücher, Instrumente. Schneiderstuben und Schuhmacherwerkstätten wurden eingerichtet, Bühne und Requisiten gefertigt, so dass im Sibirischen Gefangenenlager mehr als einhundert mal die „Fledermaus“ aufgeführt werden konnte. Unter Elsa ließ sich gut arbeiten, denn sie war stets guter Laune, so die Meinung der Gefangenen. Für sich selbst sah sie die Zeit als „Klosterdasein“ und fühlte sich als „Freiwillige Gefangene“. Oft sehnte sie sich nach Ruhe und Glück und war depressiv. Doch sie war auch stark, so stark, dass Offiziere sagten: „Männer hätten diese Arbeiten nicht aushalten können.“ Elsa würgte Hunde-und Pferdefleisch runter, trank aus Latrinen, fiel im sibirischen Schnee vom Schlitten und wurde vom Kutscher sehr unterkühlt nach zwei Stunden gefunden. Als sie mit Fleckfieber dem Tode nahe war, bat sie um die schwedische Landesflagge. Die Gefangenen beschafften sie und bauten ihr einen Sarg, weil ihr davor graute, in einem Massengrab landen zu müssen. Doch sie gesundete. Dennoch konnten ihr die Verrohung der Menschen, die Bosheiten, der Hass, die Verzweiflung und Bitternis nicht entgangen sein, was immer wieder Kraft forderte dies im Alltag zu verdrängen. Nach Ausbruch der Oktoberrevolution im Jahr 1917 wurde ihre Arbeit zusätzlich erschwert und 1918 sogar die Arbeitserlaubnis entzogen.
Nach dem Waffenstillstand war für Elsa der Krieg längst nicht vorbei und sie machte populär, dass sich immer noch 200.000 Kriegsgefangene und Zivilinternierte in Russland und Sibirien befanden. Zwischen 1919 und1920 reiste sie mehrmals nach Sibirien, mittlerweile im Range eines Unteroffiziers. Mit Hilfe des norwegischen Polarforschers Fridjof Nansen konnte sie 30.000 Ausrüstungen nach Sibirien bringen und versuchte weiterhin, Rücktransporte verwundeter deutscher Soldaten zu organisieren. Da ihr Vater schwer erkrankt war, wollte sie zu ihm nach Hause, zurück nach Schweden. Das ging aber nur durch die „weiße“ und die „Rote Front“ im mittlerweile tobenden Bürgerkrieg .
In Omsk wurde sie von „Roten“ als Geisel verhaftet. Man verdächtigte sie, eine „weiße“ Spionin zu sein und verurteilte sie zu Tode. Aktuelle Tagebuchaufzeichnungen aß sie auf, auch Briefe von Gefangenen. Die blauen Lippen erklärte sie mit Kälte. Und sie hatte wieder einmal Glück. Weil deutsche und ungarische Kommunisten für sie bürgten, kam sie nach sieben Wochen frei. Mit dem Invalidentransport ging es für sie nach Moskau und dann nach Hause.
Ihre Brüder hatten die Kriegswirren überlebt. Ihr Vater, der sehr stolz auf seine Tochter war, bedurfte nun ihrer Pflege. Seine Verdienste, vom Schwedischen König bestätigt, waren für sie ebenso bindend. Bis zu seinem Tode nutzte sie die Nachtstunden, um Daten und Fakten aus ihrem Tagebuch zusammen zu tragen. Und sie geschaffte es, ihre Aufzeichnungen als Buch zu veröffentlichen - „Den in fremder Erde ruhenden Kriegsgefangenen zum Gedächtnis“ gewidmet.
Immer wieder, wenn eine große Aufgabe beendet war, litt Elsa Brändström unter Depressionen bis hin zu Selbstmordgedanken. Diese andere Seite kannten nur wenige von ihr. Der „Engel“ wurde geliebt, verehrt, hatte Geld, aber ihm fehlte eine neue Aufgabe.
Nach dem Tod des Vaters 1921 siedelte Elsa nach Deutschland über, wo im März 1922 die erste Übersetzung ihres Buches „Unter Kriegsgefangenen in Russland und Sibirien 1914-1920“ erschien.
„Der Engel kommt“
Angekommen im besiegten Deutschland wollte Elsa Brändström nun ihr Versprechen an die Gefangenen, sich nach dem Krieg um die Waisenkinder zu kümmern, einlösen. Ebenso wollte sie für Kriegsversehrte Sanatorien errichten. Das dafür benötigte Geld sollte auch ihr Buch einbringen. Außer dem nutzte sie ihre Beziehungen, die sie als Diplomatentochter immer noch genoss, ebenso wie den Ruf des „Sibirischen Engels“. Dafür begab sie sich nun auf internationale Lesereise. Der Schwedische Erzbischhof machte für sie die Kanzel frei und gab ihr Begleitschreiben für die Lutherischen Kirchen in den USA mit. Nachrichtenagenturen, Verleger, Ärzte, Kunstsammler, ein Sohn von Kaiser Wilhelm gaben ihr Empfehlungen und Adressen. Und eine Schiffahrtsgesellschaft lud sie 1923 ein, kostenlos nach Amerika zu reisen, wo sie ihr Buch bei einer sechsmonatigen Reise verkaufen wollte.
25 Dollar waren damals ein ungewöhnlich hoher Preis für ein Buch, doch es war für einen guten Zweck.100.000 Dollar wollte sie auf diese Weise einsammeln, was ihr auch gelang. Überall wurde sie auf Plakaten begrüßt: „Der Engel kommt, der Engel kommt“. Aber es war mühselig, und die Wohlhabenden waren am geizigsten. In den USA sprach Elsa zum ersten Mal auch im Rundfunk. Reden halten war nicht so ihr Ding, aber sie schaffte es auf 350 Vorträge in allen USA Staaten außer Florida und Texas. Nachts reiste sie und tagsüber hielt sie manchmal bis zu sechs Vorträge. “Sie nahm sich ihrer Aufgabe an mit der gläubigen Tapferkeit eines Heilsarmeesoldaten und mit der Siegesgewissheit einer Ballkönigin.“, schrieb ein Reporter.
Natürlich genoss sie auf dieser Bettelreise auch den Luxus, der ihr geboten wurde. So bestieg sie Wolkenkratzer, ging Tanzen und ins Variete. Von Konversationen und Dankbarkeitsbekundungen war sie genervt. Es gab viel zu bestaunen: Alle fuhren Auto, alte Weiblein trugen Hornbrillen, Rasen wurde ständig bewässert. All das verglich die Weitgereiste mit dem Leben in Russland und Sibirien. Zu dieser Zeit hätte sie sich nicht vorstellen können, dass dieses Land noch einmal eine Heimat werden würde. Ihr Abreise aus USA wurde ein medienwirksames weithin beachtetes Spektakel.
Zurück in Deutschland
Mit Millionen Kronen, 100 000 Dollar und der von ihr gegründeten „Stiftung Arbeitssanatorium für ehemalige Kriegsgefangene Deutsche“ kaufte oder pachtete sie ín Deutschland mehrere Objekte: Bad Marienborn in der sächsischen Gemeinde Schmeckwitz, das Gut Schreibermühle bei Lychen in der Uckermark und das Schloss Neusorge bei Altmittweida in Sachsen. Letzteres wurde ein Kinderheim, wo bis 1931 circa 3000 vaterlose Kinder versorgt wurden und zeitweilig ein zu Hause fanden.
In den Sanatorien gab es medizinische und psychische Betreuung. Ziel war ein Zusammenleben ohne Rangordnung und politische Diskussionen. In jedem Zimmer hing „Marienborn ist das Eigentum eines jeden Plenny, und es versteht sich von selbst, dass jeder sein Eigentum durch freiwillige Dienste erhöht und verschönt.“
Das Kinderheim wurde von einer Gräfin geleitet. Wenn Elsa kam, wurde die schwedische Flagge gehisst. Man schämte sich, wenn man nicht so zupacken konnte wie sie. Der Alltag wurde bestimmt von einfacher Kost, Abhärtung, Sport, Sauberkeit, Ruhepausen zur rechten Zeit, Wettkämpfen, Spielen, Landsknechtliedern und – Volkstänzen sowie Heimatbewusstsein. Schmutz jeder Art, Zügellosigkeit, Rohheit und Schlappheit wurden unerbittlich im Interesse der Gesamtheit entfernt. Moderne Tänze wie Charleston, Foxtrott und Slowfox waren verboten. Kämpfen und Siegen ohne Lärm und Bitterkeit waren Elsas Credo. Alles vergessen was früher war.
Im Kinderheim gab ein Familiengericht: Jungen, die Kirschen in Nachbars Garten geklaut hatten, durften sich entscheiden, ob sie lieber eine Woche lang nicht angesprochen werden möchten oder „Familienkeile“ in Kauf nehmen. Die meisten entschieden sich für Familienkeile. Dass Elsa als Kind sich selbst nicht normgerecht verhielt, hatte sie offensichtlich verdrängt. Und ohne, dass sie sich das vorstellen konnte, prägte sie die kommende nationalsozialistische Generation. Als Hitler nach seinem Machtantritt von ihren erfolgreichen Erziehungsmethoden erfuhr, war er von dieser Frau so begeistert, dass er sie für sich gewinnen wollte. Elsa erteilte ihm eine Absage und bestieg am 11. Januar 1934 den Hapag - Dampfer in Richtung New York und verließ mit ihrem Ehemann Deutschland. Göbbels hatte noch die Kriegsgefangenenverbände mobilisiert, die den beiden Emigranten in Bremerhaven Ovationen darbrachten, um wenigstens Elsa zurückzuhalten – erfolglos. Daraufhin versuchten die Nazis, alles Gedenken an sie auszulöschen. In ihrem geliebten Kinderheim Neusorge wurde die Hakenkreuzfahne aufgezogen und eine Sportschule für Hitlers Geheimpolizei eingerichtet. Wie erschreckend ist es, heute sehen zu müssen, dass wieder viele in nationalsozialistischen Gleisen fahren wollen.
Elsa Brändström konnte an Deutschlands Zukunft nicht mehr glauben, und das verdankte sie ihrem Ehemann. Sie war bereits vierzig, als sie sich in den verheirateten christlichen Sozialisten, Philosophie- und Pädagogikprofessor sowie Ministerialreferenten Robert Ulich verliebte. 1929 hatten die beiden unter Ausschluss der Öffentlichkeit geheiratet.Nur Probst Eduard Juhl, ein ehemaliger „Plenny“ aus Sibirien, sprach Worte, die sie selbst ausgewählt hatte. Die Nachricht der Eheschließung wurde von den Kindern auf Schloss Neusorge als mit Sorge aufgenommen. Wer war denn überhaupt gut für sie? Elsa hingegen wirkte allmählich gelöster und weicher, trotz mehrerer Fehlgeburten. Ihr Mann wurde als weltabgewandt, träumerisch und unpraktisch gesehen, also das ganze Gegenteil von ihr. Er fand, dass sie zu wenig die Eigenschaft des ruhig entspannten Genusses lebte. Schon bevor sie im Januar 1932 die Tochter Britta in Dresden zu Welt gebracht hatte, waren Zweifel an ihrem Erziehungsmodell aufgekommen.
Exil, Krieg und Krankheit
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten legte Elsas Ehemann alle Ämter an der Technischen Universität in Dresden nieder, um eine Professur in Harvard anzunehmen.
Jüdische Freunde und Sozialisten im Freundeskreis des Paares waren bereits verhaftet worden. Professor Robert Ulich war sich sehr wohl bewusst, dass er ohne den Ruf seiner Frau, des „Sibirischen Engels“, wahrscheinlich im Gefängnis gelandet wäre, wo mehrere seiner Freunde zu Tode kamen. Beide sind also aus Deutschland geflohen. Tochter Britta folgte mit einer Betreuerin ein Jahr später nach. Die Familie lebte nun in Cambridge Massachusetts und Elsa wäre keine Philanthropin, wie sie sich selbst sah, gewesen, wenn sie die Hände in den Schoss gelegt hätte. Auch in den USA hatte sie Kontakte in einflussreiche Kreise und baute somit ein Netzwerk auf, um Geflüchteten aus Deutschland und Österreich zu helfen. Auch Eleonore Roosevelt war ihr behilflich. Bürgschaften für Immigranten, Quartiere, Sprachkurse, Nähschule, Gesang, all das war einfacher als Sibirien. 1939 eröffnete sie den „Window-Shop“ in Cambridge – mit Restaurant, Cafe, Partydienst, eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Flüchtlinge.
Furchtbar war es für Elsa Brändström sie mit ansehen zu müssen wie der nächste große Krieg sich anbahnte. Als im Jahr 1940 Norwegen von Deutschland besetzt wurde, sammelte sie Geld, um norwegische Piloten in Amerika ausbilden zu lassen, um sie dann gegen ihr einst so geliebtes Deutschland einzusetzen.
Im Jahr 1943 erkrankte Elsa Brändström an Brustkrebs. 1945 sammelte sie in ihrem Keller für eine Hilfsaktion Kleider für notleidende Kinder in Deutschland, was nach amerikanischen Gesetz „Feindbegünstigung“ war und nicht ungefährlich. Ein mal noch konnte Elsa ihre Heimat Schweden besuchen. In Deutschland hingegen ließ man sie nie wieder einreisen. Sie starb 1948 an Knochenkrebs. In diesem Jahr wurde ich geboren und habe bisher noch keinen Krieg am eigenen Leibe verspüren müssen – bisher!
Doch Geschichte wiederholt sich. Und "Engel" werden die Menschheit nicht retten.
Quellen und Anmerkungen
Petra Löschke ist schwedische Honorarkonsulin in Sachsen und Sachsen - Anhalt und will das Lebenswerk sowie die Erinnerung an Elsa Brändström erhalten.
Zu erwähnen ist noch die neueste Videoproduktion, die bei Trickkiste.film 2014 in Leipzig entstand.