War­um ich eine Lum­pen­pa­zi­fis­tin bin

Im April 2022 erschien im Spie­gel unter dem Titel: 'Der deut­sche Lum­pen-Pazi­fis­mus' eine Kolum­ne von Sascha Lobo - Autor und Stra­te­gie­be­ra­ter mit den Schwer­punk­ten Inter­net und Tech­no­lo­gie. Er bezich­tig­te dar­in einen sub­stan­zi­el­len Teil der Frie­dens­be­we­gung der Selbstgerechtigkeit.

Lobo unter­schei­det zwi­schen einem ver­nunf­t­ori­en­tier­ten, auf­ge­klär­ten und rea­lis­ti­schen Pazi­fis­mus. Neben der Radi­ka­li­tät bei der Schaf­fung der Vor­aus­set­zun­gen für Frie­den ver­ste­he man dar­un­ter eben auch Akzep­tanz des Wun­sches von Angriffs­op­fern, sich zu ver­tei­di­gen. Den ande­ren Teil der Frie­dens­be­we­gung bezeich­net er als „Lum­pen­pa­zi­fis­mus“. Es han­de­le sich dabei um eine zutiefst ego­zen­tri­sche Ideo­lo­gie, die den Befind­lich­keits­stolz über das Leid ande­rer Men­schen stel­le. Lum­pen­pa­zi­fis­ten, und ich ergän­ze mal das – innen, da beson­ders vie­le Frau­en und Diver­se zu die­ser Art gehö­ren, könn­ten mit der Rea­li­tät nicht viel anfan­gen und sei­en selbst­ge­recht. Es sei­en Men­schen, die sich eine Jacke anzie­hen und sofort ver­ges­sen, was es heißt zu frieren.

Ich bin ein Kriegs­en­kel, genau­er gesagt ein Kriegsurenkel.(..)
Ich sah Blin­de und Kriegs­ver­sehr­te mit feh­len­den Glied­ma­ßen in mei­ner Umgebung.
Mein Onkel Richard war ein gebro­che­ner Mann.

Genug der Zita­te. Ich möch­te hier erklä­ren, war­um ich zur „Lum­pen­pa­zi­fis­tin“ wur­de. War­um ich das Mani­fest von Schwar­zer und Wagen­knecht unter­schrie­ben habe und war­um ich am Sams­tag, dem 25.2.23 bei der Kund­ge­bung: Auf­stand für den Frie­den am Bran­den­bur­ger Tor dabei sein wer­de. Sascha Lobo ist Jahr­gang 1975. Genau wie mein Bru­der. Ich bin Jahr­gang 1961. Mei­nen Bru­der und mich unter­schei­det etwas ganz Wesent­li­ches, das unse­re Kind­heit geprägt hat. Ich bin ein Kriegs­en­kel, genau­er gesagt ein Kriegs­u­ren­kel. Ich habe in den 60iger Jah­ren das kriegs­ver­heer­te Des­sau erlebt. Ich wuss­te, in den Rui­nen haben Men­schen gewohnt, vie­le von ihnen sind bei den Bom­ben­an­grif­fen gestor­ben. Ich sah Blin­de und Kriegs­ver­sehr­te mit feh­len­den Glied­ma­ßen in mei­ner Umge­bung. Mein Onkel Richard war ein gebro­che­ner Mann. Er ging regel­mä­ßig zur Arbeit. Danach brauch­te er sei­nen Schnaps und stier­te starr vor sich hin. Er war im „Russ­land-Feld­zug“ gewe­sen, danach in Gefan­gen­schaft. Als er zurück­kam, war sei­ne Frau gestor­ben. Zwei klei­ne Kin­der hat­te sie hin­ter­las­sen. Mei­ne Omi Ida küm­mer­te sich um die Drei. Ihr Mann Otto, Vater ihres klei­nen Soh­nes, galt als ver­misst. Er wur­de ein­ge­zo­gen, als alles schon zu spät war, im Okto­ber 1944 ins Sturm­ge­schütz- Ersatz- und Aus­bil­dungs Batail­lon 200 Schier­atz (poln.Sieradz). Sein letz­ter Brief ist datiert auf den 17. Janu­ar 1945. Ver­misst. Ihr Leben lang haben mei­ne Omi und mei­ne Urgroß­el­tern gehofft, er wür­de eines Tages zurückkehren.

Ich wuss­te schon als klei­nes Kind, was Krieg bedeutet:
Ver­lo­re­ne Söh­ne, Zer­stö­rung, Gram.
Das hat sich tief ein­ge­gra­ben in mein Wesen.

Die ande­ren zwei Söh­ne, Erich und Her­mann waren zuvor im Osten „gefal­len für Führer,Volk und Vater­land“. Ich wuss­te schon als klei­nes Kind, was Krieg bedeu­tet: Ver­lo­re­ne Söh­ne, Zer­stö­rung, Gram. Das hat sich tief ein­ge­gra­ben in mein Wesen. Und ich wage zu behaup­ten auch bei vie­len ande­ren mei­ner Alters­grup­pe in Ost wie West ist das so. (Buch­tipp Sabi­ne Bode: „Kriegs­kin­der“ und „Kriegs­en­kel“) Die Nach­ge­bo­re­nen wie Sascha Lobo, mein Bru­der und auch mei­ne Kin­der sind nicht direkt mit den Gräu­eln des Krie­ges kon­fron­tiert wor­den. Sie ken­nen Krieg nur aus den Medi­en. Des­halb argu­men­tie­ren sie von der mora­li­schen Seite.

Putin wird mit Hit­ler gleich­ge­setzt. Die über­fal­le­nen Ukrai­ner mit den vom Nazi­re­gime Ver­folg­ten. Die Ver­folg­ten müs­sen sich um jeden Preis weh­ren, damit die Faschis­ten sie nicht ver­nich­ten und wei­ter gen Wes­ten mar­schie­ren. Also her mit den Waf­fen! Aber so ein­fach ist die Lage nicht. Auch in der Ukrai­ne treibt der Natio­na­lis­mus, den wir in der Mit­te Euro­pas schon als über­wun­den betrach­tet hat­ten, wil­de Blü­ten. Hier wer­den Völ­ker auf­ein­an­der gehetzt! Des­halb bin ich eine von aktu­ell 567.209 Men­schen, die das Mani­fest für den Frie­den unter­schrie­ben haben. „Ver­han­deln heißt nicht kapi­tu­lie­ren. Ver­han­deln heißt Kom­pro­mis­se machen, auf bei­den Sei­ten. Mit dem Ziel Hun­der­tau­sen­de Tote und Schlim­me­res zu verhindern.“

Nun haben Wagen­knecht und Schwar­zer es auch noch gewagt, zu einer Kund­ge­bung am Bran­den­bur­ger Tor auf­zu­ru­fen: Auf­stand für den Frie­den. Hat­te es für ihr Mani­fest schon Kri­tik von der ein­sei­ti­gen Pres­se geha­gelt, nach dem Mot­to popu­lis­ti­scher Lum­pen­pa­zi­fis­mus, haben die älte­ren Damen das nötig?! , geht es jetzt noch har­scher zu. Ers­te Erst­un­ter­zeich­ner des Mani­fests zie­hen ihre Unter­schrift zurück, weil sie einen Auf­stand von Rechts befürch­ten. Die Auf­ru­fen­den hät­ten sich nicht klar genug von Leu­ten mit men­schen­ver­ach­ten­dem Den­ken abge­grenzt, es rei­che nicht, alle Men­schen mit „einem Herz für den Frie­den“ ein­zu­la­den. Da könn­ten ja Nazis zuhauf aufmarschieren.

Viel­leicht bin ich selbstgerecht.
Aber ich bin es Ihnen schuldig.
Dem Her­mann, dem Erich, dem Otto
und den Mil­li­ar­den ande­ren Kriegs­op­fern auf die­ser Welt.

Im Auf­ruf heißt es: „Wir die schwei­gen­de Mehr­heit (nach neu­es­ten Umfra­gen 59 Pro­zent) sind gegen wei­te­re Waf­fen­lie­fe­run­gen und für Ver­hand­lun­gen. Wir wol­len uns mit diesen
For­de­run­gen bei der Poli­tik Gehör ver­schaf­fen ... Jeder Tag, den wir durch Ver­hand­lun­gen für den Frie­den gewin­nen, ret­tet Men­schen­le­ben – und viel­leicht sogar die Welt“ Dem kann ich mich gut anschlie­ßen. Krieg ist Mord. Sol­da­ten sind Mör­der und wer­den selbst ermor­det. (Anlei­he bei Kurt Tucholsky)
Viel­leicht bin ich selbst­ge­recht. Aber ich bin es Ihnen schul­dig. Dem Her­mann, dem Erich, dem Otto und den Mil­li­ar­den ande­ren Kriegs­op­fern auf die­ser Welt. Am meis­ten bin ich es mei­nem Urgroß­va­ter schul­dig. Ich bin auf­ge­wach­sen mit den Wor­ten: Nie wie­der Krieg!

Die Jacke Lum­pen­pa­zi­fist zie­he ich mir an, aber ich weiß, dass ich dar­in friere!

Solveig Feld­mei­er

Foto oben: © get­ty Images / Jun

Ich möch­te mei­nem Arti­kel gern drei baro­cke Gedich­te von Fried­rich von Logau bei­fü­gen. Sie ent­stan­den in der Zeit des 30jährigen Krieges.

„Des Krie­ges Buchstaben“

Kum­mer, der das Mark verzehret,
Raub, der Hab und Gut verheeret,
Jam­mer, der den Sinn verkehret,
Elend, das den Leib beschweret,
Grau­sam­keit, die Unrecht kehret,
Sind die Frucht, die Krieg gewähret.

„Krieg und Friede“

Die Welt hat Krieg geführt weit über zwan­zig Jahr.
Nun­mehr soll Frie­de sein, soll wer­den, wie es war.
Sie hat gekriegt um das, o lachens­wer­te Tat,
Was sie, eh sie gekriegt, zuvor beses­sen hat.

„Heu­ti­ge Weltkunst“

Moder­ni­siert
Anders sein und anders scheinen,
Anders reden, anders meinen;
Alles loben, alles tragen,
Allen heu­cheln, stets behagen,
Allem Win­de Segel geben,
Bös’ und Guten dienst­bar leben;
Alles Tun und alles Dichten
Bloß auf eig­nen Nut­zen richten:
Wer sich des­sen will befleißen,
Kann poli­tisch heu­er heißen.

https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/ukraine-krieg-der-deutsche-lumpen-pazifismus-kolumne-a-77ea2788-e80f-4a51-838f-591843da8356

https://www.aliceschwarzer.de/artikel/manifesto-peace-340073
https://www.aliceschwarzer.de/artikel/kundgebung-aufstand-fuer-frieden-340051

 

 

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