Nord­tan­gen­te oder Auto­bahn 143 – Pest oder Cholera?

Die Bau­vor­ha­ben 'A143', 'Gewer­be­parks bei Tornau und Sen­ne­witz' sowie 'Nord­tan­gen­te' hän­gen zusam­men. Wenn eines ent­steht, wer­den die ande­ren bei­den wahr­schein­li­cher. Ein Plä­doy­er gegen den Aus­bau Hal­les zum Logis­tik­stand­ort – für eine Ver­kehrs­wen­de und den Wis­sens- und Krea­tiv­stand­ort Halle

Lyo­nel Fei­nin­ger hat Hal­le ein­mal als wun­der­vol­les Städt­chen bezeich­net, das war in den zwan­zi­ger Jah­ren. Weni­ger oft wird das Urteil eines ande­ren Malers der Zeit erwähnt. Karl Völ­ker kam zu dem Schluss, es loh­ne nicht, sich in die hal­le­sche Poli­tik zu mischen, es sei bei den Stadt­obe­ren Hop­fen und Malz ver­lo­ren. In den 80er Jah­ren galt eine beruf­li­che Ver­set­zung nach Hal­le als Stra­fe: graue kaput­te Häu­ser, die wahr­schein­lich schmut­zigs­te Luft Mit­tel­eu­ro­pas und die all­seits bekann­te Schnoddrigkeit.

Statt etwas aus der Alt­stadt zu machen, die die Zeit wie kaum eine ande­re über­dau­ert hat­te, fiel den Stadt­pla­nern in der Nach­kriegs­zeit das ein, was eben dem Zeit­geist in bei­den Deutsch­lands ent­sprach, die auto­ge­rech­te Stadt mit mög­lichst viel Beton. Die Ergeb­nis­se waren eine bru­ta­le Schnei­se mit­ten durch die Stadt, eine rie­si­ge Auto­kreu­zung am Bahn­hof, wo zuvor ein leben­di­ges Vier­tel stand (das den Krieg über­dau­ert hat­te!) und der Abriss von Fach­werk- und Jugendstilhäusern.

Gibt es eine ande­re Stadt­ver­wal­tung-Poli­tik, die der­art oft ihre Kul­tur­gü­ter pla­nie­ren woll­te wie die hallesche?

Nun bestand ja durch­aus Hoff­nung, an die­ser unfä­hi­gen Stadt­pla­nung hät­te sich seit dem Ende des Real­so­zia­lis­mus etwas ver­bes­sert. Lei­der ist das nicht so. Für das MDR Haus wur­de ein gan­zes Vier­tel abge­räumt, am Stein­tor wur­de jüngst ein Stück vom Pau­lus­vier­tel zer­stört, der Bau­ern­club für eine über­di­men­sio­nier­te Stra­ße abge­ris­sen, Rad­fah­rer kön­nen immer noch nicht legal vom Bahn­hof in die Lud­wig-Wuche­rer-Stra­ße fah­ren. Dass das Künst­ler­haus 188 nicht auch einer Stra­ße wei­chen muss­te, dass das ältes­te Fach­werk­haus in der Mit­tel­stra­ße noch steht und vie­le wei­te­re Kul­tur­gü­ter erhal­ten blie­ben, ist enga­gier­ten Bür­ge­rin­nen und Bür­gern zu ver­dan­ken, die sich dem Abriss-und-Beton-Den­ken der Stadt­ver­wal­tung ent­schlos­sen ent­ge­gen stell­ten. Gibt es eine ande­re Stadt­ver­wal­tung-Poli­tik, die der­art oft ihre Kul­tur­gü­ter pla­nie­ren woll­te wie die hallesche?

geplanter Verlauf der A143 Nord mit Schutzgebieten

geplan­ter Ver­lauf der A143 Nord mit Schutz­ge­bie­ten ( Quel­le: BI Saa­le­tal / Open Street Map )

Als hät­te er nicht schon genug zer­stört, bringt die­ser Ungeist immer noch neu­es Unheil her­vor, die noch wei­te­re Zurich­tung aufs Auto­mo­bil, und das heißt schließ­lich: auf noch mehr Autos.
Zum einen sol­len 13 Kilo­me­ter Auto­bahn bei Brach­witz das her­bei­zau­bern, was bereits der Auto­bahn 14 nicht gelang: das Ende vom Auto-Stau in der Stadt und wirt­schaft­li­cher Auf­schwung. Zum ande­ren sind neue Gewer­be­parks bei Tornau und Sen­ne­witz geplant. Sie sind eng ver­knüpft mit der Nord­tan­gen­te bei Tro­tha, einer neu­en Schnell­stra­ße. Ansie­deln sol­len sich Spe­di­tio­nen und Logis­ti­ker. Es dro­hen hun­der­te zusätz­li­cher LKW Fahr­ten jeden Tag. Wenn auf der Auto­bahn oder der Nord­tan­gen­te ein Unfall wäre, und das pas­siert nun ein­mal regel­mä­ßig, dann wür­de sich die­se LKW-Flut durch die Stadt quä­len. Alle drei Bau­vor­ha­ben hän­gen zusam­men, wenn eines ent­steht, wer­den die ande­ren bei­den wahr­schein­li­cher. Eine Spe­di­ti­on, wel­che es auch sein möge, wird immer noch eine Stra­ße, die sie ohne­hin nicht bezah­len muss, verlangen.

Wol­len wir einen der bes­ten schwarz-Erde-Böden der Welt opfern?

Solan­ge der Unsinn, mehr Stra­ßen sei­en eine Lösung für Ver­kehrs- und ande­re Pro­ble­me, die Poli­tik der Stadt bestimmt, wird es auch nie genug damit sein. Weder wür­de die Auto­bahn die Nord­tan­gen­te abwen­den noch anders­her­um. Im Gegen­teil, wie durch zwei Stu­di­en pro­gnos­ti­ziert, wür­de die Auto­bahn 143 den Stau in der Stadt nicht vermindern.

Der Hun­ger nach neu­en Bau­auf­trä­gen ist nie gestillt, und der Zuwachs an Auto­ver­kehr hört nicht dar­um auf, weil mehr Stra­ßen da wären. Deutsch­land Ost und West gibt es heu­te mehr Stra­ßen als vor 10, 20, 30, 40 Jah­ren. Und es gibt mehr und nicht etwa weni­ger Staus. Das lässt sich zurück­ver­fol­gen bis zum Beginn des Auto­mo­bils. Noch nie haben Stra­ßen das Stau-Pro­blem dau­er­haft gelöst.

Die Fra­ge, die erst ein­mal gestellt wer­den soll­te ist doch die: wol­len wir das alles? Wol­len wir eini­ge weni­ge schlecht bezahl­te Arbeits­plät­ze in der Logis­tik – aus­ge­beu­te­te Leih­ar­bei­ter, deren Toi­let­ten­pau­sen mit GPS-Sen­dern über­wacht wer­den, wie bei Ama­zon üblich – um den Preis einer Flut von LKW auf Auto­bahn, Bun­des­stra­ße und wenn dort etwas schief geht, in der Stadt? Wol­len wir einen der bes­ten schwarz-Erde-Böden der Welt opfern? Wol­len wir ein Natur­schutz­ge­biet von euro­päi­schem Rang im Saa­le­tal opfern?

Infra­struk­tur des 20. und 21. Jahrhunderts

Die zen­tra­le Infra­struk­tur des 21. Jahr­hun­derts ist Wis­sen und Krea­ti­vi­tät. Dazu braucht es ein ange­neh­mes städ­ti­sches Umfeld, schnel­les Inter­net, eine Unver­si­tät und eine kom­pak­te, leben­di­ge Stadt. Goog­le kann sich über­all auf der Welt nie­der­las­sen, aber es bevor­zugt San Fran­cis­co, Ber­lin Kreuz­berg (wo es erst ein­mal erfolg­reich ver­trie­ben wur­de, von einem Bünd­nis gegen „Mie­ten­wahn­sinn“), War­schau, Lis­sa­bon usw. Ob es da eine Auto­bahn gibt, spielt über­haupt kei­ne Rol­le. Alles was es braucht ist vor allem ein Flughafen.

Das Abwan­dern der Indus­trie hat aber über­haupt nichts mit einem Man­gel an Stra­ßen zu schaffen.

Die Infra­struk­tur des 20. Jahr­hun­derts, das waren und sind Stra­ßen, Kanä­le, Schie­nen usw. Doch die gibt es längst. Als Hal­le noch Stand­ort von Maschi­nen­bau, Che­mie­in­dus­trie und Teil des größ­ten Wag­gon­baus der Welt war, gab es bereits die not­wen­di­ge Infra­struk­tur. Die Indus­trie mit ihren gut bezahl­ten, siche­ren Arbeits­plät­zen ist weg. Das hat zu tun mit der Glo­ba­li­sie­rung, mit Chi­nas Auf­stieg, und mit der Teu­hand-Anstalt. Das Abwan­dern der Indus­trie hat aber über­haupt nichts mit einem Man­gel an Stra­ßen zu schaf­fen. Sie wird also auch nicht wie­der­kom­men, wenn noch mehr Stra­ßen da wären.
Wer schreit denn am lau­tes­ten nach Stra­ßen­bau, und gibt jedes­mal die sel­ben lee­ren Ver­spre­chen vom kom­men­den Auf­schwung ab? Sind es nicht Die­je­ni­gen, die den Aus­ver­kauf des Ostens in den 90er Jah­ren besorgt haben? Sol­len da nicht die Umwelt­schüt­zer zu Sün­den­bö­cken gemacht wer­den, um von den wirk­li­chen Ursa­chen der Kri­se des Ostens abzulenken?

An der Deindus­tria­li­sie­rung ist nichts mehr zu ändern. Sie hat auch ihre guten Sei­ten, es gibt wie­der Fische in der Saa­le und die Luft ist wesent­lich sau­be­rer gewor­den. Was Hal­le noch hat, ist die Uni­ver­si­tät und den gro­ßen Vor­teil, eine schö­ne, grü­ne und über­sicht­li­che Stadt zu sein. Es fehlt nicht viel, um dar­aus auch gut bezahl­te Arbeits­plät­ze zu machen.

An der Deindus­tria­li­sie­rung ist nichts mehr zu ändern. Sie hat auch ihre guten Seiten.

Eine Wis­sens- und Krea­tiv­in­dus­trie kann mit geschick­ter För­de­rung in Uni­ver­si­täts­städ­ten ent­ste­hen. Wer ein­mal die Inter­net­sei­te der Stadt anschaut, mit der Inves­to­ren ange­lockt wer­den sol­len, erkennt die Stadt kaum wie­der. Haben Sie schon ein­mal, ein ein­zi­ges Mal das Vor­ur­teil von Frem­den, die noch nie in Hal­le waren, gehört, sie wür­den die Stadt nicht mögen wegen der feh­len­den Auto­bahn? Nein? Haben Sie schon ein­mal gehört, Hal­le sei doch so grau, und es gäbe doch so vie­le Plat­ten­bau­ten und Neo­na­zis? Ja? Grau ist es nicht mehr, und Plat­ten­bau­ten gibt es über­all, zumal sind sie noch bezahl­ba­rer Wohn­raum. Aber das Hal­le ein Nazi­pro­blem hat, war gelo­gen, als es der Spie­gel vor eini­gen Jah­ren schrieb. Heu­te wäre es nicht mehr gelo­gen, denn die rechts­ex­tre­me Iden­ti­tä­re Bewe­gung hat sozu­sa­gen ihr Haupt­quar­tier auf­ge­schla­gen. Und deren Haus steht aus­ge­rech­net direkt am neu­en Uni-Campus.

Klu­ge Köp­fe wer­den hun­dert­mal eher von Hal­le abge­hal­ten wegen des unter­stell­ten und ech­ten Nazi­pro­blems, als vom angeb­li­chen Feh­len einer Stra­ße, oder vom gele­gent­li­chen Stau, der nun ein­mal zur Auto­stadt dazu­ge­hört. Wenn die Stadt etwas für die Infra­struk­tur des 21. Jahr­hun­derts, Wis­sen und Krea­ti­vi­tät, tun will, täte sie gut dar­an, sich die­ses Pro­blems anzu­neh­men, statt bun­te Wer­bung ins Inter­net zu stel­len, die wenig mit der Rea­li­tät zu tun hat.

Frei­burg des Ostens

Im Krea­tiv- und Wis­sens­be­reich kön­nen gut bezahl­te Stel­len für Tau­sen­de ent­ste­hen, die wie­der­um Kauf­kraft in die Stadt brin­gen und wei­te­re Arbeits­plät­ze nach sich zie­hen. Groß genug ist Hal­le, das tut gar nichts zur Sache, Jena und Frei­burg sind viel klei­ner. Die Infra­struk­tur dafür ist eine tole­ran­te und siche­re Stadt, auch für Anders­den­ken­de, Anders­lie­ben­de, und Andersaussehende.
Wer meint, das wäre schon so, Hal­le wäre tole­rant, kann ja ein­mal als offen­sicht­lich zu erken­nen­des Feind­bild der neu­en Rech­ten durch die Stadt lau­fen (homo­se­xu­ell, mus­li­misch, jüdisch, links-grün, etc.) Um es ein­mal deut­lich zu sagen, es könn­te schlim­mer sein, kei­ne Fra­ge, aber immer noch hat Hal­le ein Pro­blem mit Into­le­ranz und Frem­den­feind­lich­keit. Das lässt sich durch kein Nord­tan­gen­te, kei­ne Hoch­glanz­wer­bung und kei­ne Auto­bahn aus­bü­geln. Hal­le könn­te das Frei­burg des Ostens sein, wenn es auch so tole­rant und sicher wäre, es hat ansons­ten die Uni­ver­si­tät, noch (!) bezahl­ba­re Mie­ten, die rich­ti­ge Grö­ße und eine per­fek­te ICE Anbin­dung nach Ber­lin und München.

Der Leucht­turm für die Krea­tiv­bran­che ist – mit allen Nach­tei­len wie Mie­ten­wahn­sinn, natür­lich – Kreuz­berg in Ber­lin. Ein Stadt­teil mit Tem­po 30 Zonen und ver­kehrs­be­ru­hig­ten Sei­ten­stra­ßen mit reich­lich Pol­lern, Fahr­bahn­ver­en­gung und künst­li­chen Huckeln, die zum lang­sam fah­ren zwingen.
Die Stra­ßen quel­len im Som­mer über vor Rad­fah­rern und Fuß­gän­gern. Men­schen, die eine ande­re Reli­gi­on als die christ­li­che haben und eine ande­re Haut­far­be als weiß kön­nen sich ver­gleichs­wei­se sicher fühlen.

Kei­ne Fra­ge, schon Leip­zig wird nie Ber­lin, so oft es auch behaup­tet wird, und Hal­le wird nie Leip­zig. Jede Stadt hat ihren Cha­rak­ter und ihre Geschich­te. Aber auch Hal­le könn­te sicher und welt­of­fen sein für vie­le Men­schen. Das wäre ohne­hin ein Bei­trag zur Lebens­qua­li­tät, ganz unab­hän­gig von der Wirtschaft!

Die soli­da­ri­sche, Auto-befrei­te Stadt

Was Hal­le wie jede Stadt braucht, ist eine Ver­kehrs­wen­de. Statt der auto­ge­rech­ten Stadt braucht es die Visi­on der fuß­gän­ger­ge­rech­ten Stadt, der begeh­ba­ren öffent­li­chen Räu­me, der kur­zen Wege, der Erreich­bar­keit mit Fahr­rad und Tram. Dafür hat die Stadt sehr viel recht­li­chen Spiel­raum. Das wäre zuerst, dass Häu­ser (bezahl­ba­re Woh­nun­gen) nicht mehr abge­ris­sen und in Park­plät­ze ver­wan­delt wer­den, dass Vor­gär­ten nicht mehr zer­stört und dann zuge­parkt wer­den, und dass die Untä­tig­keit des Ord­nungs­am­tes gegen Fuß­weg-Par­ker aufhört.

Aus den Feh­lern von Ber­lin und Leip­zig kann Hal­le ler­nen, denn hier beginnt alles min­des­tens zehn Jah­re spä­ter. Es gilt, die Krea­tiv­in­dus­trie zu stär­ken, ohne den Mie­ten­wu­cher und die Woh­nungs­not in die Stadt zu holen. Die Stadt soll grü­ner wer­den, siche­rer auch für Kin­der und alte Menschen.

Aus den Feh­lern von Ber­lin und Leip­zig kann Hal­le ler­nen, denn hier beginnt alles min­des­tens zehn Jah­re später.

Der Wan­del muss so gestal­tet wer­den, dass alle etwas davon haben. Das ist mög­lich, und es braucht die kla­re Abkehr von unsin­ni­gen Groß­pro­jek­ten und ein kla­res Ja zu zu einer Verkehrswende.

Eine Hin­wen­dung zu einer Stadt für die Schwächs­ten, Kin­der und Alte, eine Stadt der Tole­ranz und Sicher­heit wäre nicht nur wirt­schaft­lich son­dern über­haupt ein Gewinn für alle. Mit dem Ver­schwen­den von Geld und Res­sour­cen im Stra­ßen­bau muss end­lich Schluss sein, wir for­dern eine Ver­kehrs­wen­de, eine Abkehr von der Auto-Stadt. Das Geld, dass A 143, Nord­tan­gen­te und Saa­le­brü­cke ver­schlin­gen wür­den, ist bes­ser ange­legt in Fuß- und Rad­we­ge, in Grün­an­la­gen und öffent­li­chen Nahverkehr.

Dr. Con­rad Kunze

Spre­cher der BI Saa­le­tal

Ein Kommentar zu “Nord­tan­gen­te oder Auto­bahn 143 – Pest oder Cholera?

  1. Aus­ge­zeich­ne­ter Kom­men­tar, wel­cher den Nagel auf den Kopf trifft. 

    Ich hof­fe, dass ein gemein­sa­mes Enga­ge­ment die weni­gen übri­gen Grün­flä­chen in Hal­le ret­ten kann.
    Sol­che Bei­trä­ge müs­sen laut in die Gesell­schaft getra­gen werden. 

    Klei­ner Tipp meinerseits:
    Die­sen Frei­tag ist "Fri­days For Future". Ich wer­de ver­su­chen die Initia­to­ren für das The­ma Nord­tan­gen­te zu sen­si­bi­li­sie­ren. Viel­leicht möch­te sich auch der eine oder ande­re Autor hier dar­an beteiligen :).

    Bes­te Grü­ße und Lob an die fer­ti­ge Seite
    And­re Sebald

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