Neulich dachte ich an einen Winter meiner Kindheit in den sechziger Jahren in Dresden, als die Familie zu fünft nur eins der beheizbaren Zimmer bewohnen konnte. Für uns Kinder spannend, für die Eltern beängstigend: Es würde wohl noch längere Zeit kalt bleiben, und die Kohlen gingen zur Neige. Vielleicht war der Ausnahmezustand nur regional begrenzt, offiziell gab es darüber keine Informationen. In der DDR ist immer irgendetwas knapp gewesen, aber existenziell wichtige Dinge waren meist bald wieder vorhanden, auch weil sie aus einheimischer Produktion stammten. Kommt es heutzutage zu Engpässen bei Medikamenten oder anderen täglich benötigten Dingen, liegt das an „ausgelagerter“ Produktion, an Lieferketten, die bis in fernöstliche Regionen reichen und instabil werden können – was besonders in Krisenzeiten prekär ist. Als Krisen wurden Ausnahmezustände in der DDR nicht bezeichnet. Krisen waren politisch, extern, spielten sich anderswo ab, tangierten den Alltag kaum, beispielsweise die Kuba-, später die Falklandkrise. Im Zweiten Weltkrieg, während des Mauerbaus, nach dem GAU in Tschernobyl – sprach man da von Krise, hatten wir ein „Krisengefühl“?
(Im Folgenden wird der Begriff Krise verwendet, weil er gebräuchlich ist. In den meisten Fällen handelt es sich nicht um Krisen, sondern um bleibende Herausforderungen, denen mit Schadensbegrenzung zu begegnen ist.)
Vergleiche mit vergangenen Zeiten und anderen politischen Systemen sind natürlich gewagt. Doch wenn aktuell vom „Herunterfahren des gesellschaftlichen Lebens“ die Rede ist, zeigt sich, wie viel komplexer und damit fragiler, abhängiger und verwundbarer unsere Gesellschaft geworden ist; wie kompliziert und damit (vor allem auf wirtschaftlicher Ebene) unvorhersehbar folgenreich – aber natürlich dennoch ohne Alternative – ein „Herunterfahren“ ist. Ebenso wird das Wieder-Hochfahren nicht problemlos von statten gehen.
Im Zweiten Weltkrieg, während des Mauerbaus, nach dem GAU in Tschernobyl – sprach man da von Krise, hatten wir ein „Krisengefühl“?
Die Coronakrise ruft – mehr als die Euro- oder Klimakrise – Gefühle der Bedrohung und Angst hervor, die sich in der Gesellschaft „ansteckend“ ausbreiten. Sie rückt uns direkt auf den Leib. Jeder will sich und seinen Angehörigen die neue unbekannte Krankheit ersparen. Hauptsache Gesundheit! lautet schon immer der häufigste Wunsch. Das Interesse an Informationen über Covid-19 ist groß und wird auf allen Kanälen bedient. Stündlich verändern sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse und die daraus entstehenden Konsequenzen. Gleichzeitig verstärken die Nachrichten auch die Ängste, wenn die rasch um sich greifende Pandemie, als Seuche, größte Gefahr seit Jahrzehnten für die Gesellschaft, die Menschheit, eingeordnet, wenn sie mit Sars, Ebola und der Spanischen Grippe verglichen wird und Anlass gibt, an die Pest zu erinnern; wenn die Bundeskanzlerin in ihrer ersten Sonderansprache von einer schweren Prüfung spricht, von der größten Herausforderung seit dem zweiten Weltkrieg, die unsere Vorstellung von Normalität infrage stellt; wenn wir Begriffe hören wie Bewährungs- und Belastungsprobe, heilsamer Schock, Stresstest für die Gesellschaft, absolutes Novum, historischer Markstein ...
Verglichen mit der Klimakrise hört die Politik der meisten Staaten besser auf Expertenmeinungen, auf Forschungsergebnisse, und die Verantwortlichen reagieren vielgestaltig und relativ schnell: Dann muss es ja wirklich schlimm sein, sagen wir uns. (Wir kennen zudem eher die politische Funktionslogik: reagieren auf entstandene Umstände statt vorausschauend zu agieren. An Warnungen fehlte es nicht, und die WHO hat früh von einer Pandemie gesprochen.)
Einerseits beruhigen nicht-pharmazeutische Interventionen, also eilige drastische Schutzvorkehrungen zur Verlangsamung der Virusausbreitung: Grenzkontrolle, Streichung von Flügen, Verbot öffentlicher Veranstaltungen, Schließung von Schulen und Freizeiteinrichtungen, Einschränkung der Bewegungsfreiheit, Ausgangssperre, Ausrufung des Katastrophenfalls, des Ausnahme-, Alarm- oder Notstandsfalls, Mundschutzpflicht ... Andererseits wächst die Befürchtung, selber diese Krankheit zu kriegen – oder eine andere schwere, bei der einem dann nicht genug Hilfe zuteil wird, wenn sogar das Krankenhauswesen überfordert sein könnte.
An manchem Morgen wache
ich mit dem Gedanken an Corona auf.
Bedrohlich sind zudem die Epiphänomene: fehlende Schutzkleidung und -masken, der Mangel an Lebensmitteln wegen Hamsterkäufen. Und immer noch kursierende Verschwörungstheorien: Das Virus wurde in amerikanischen, chinesischen oder russischen Biowaffenlabors erzeugt; es dient als Brandbeschleuniger einer baldigen Revolution, die Maßregeln sollen das Volk auf einen Systemwechsel vorbereiten usw. – apokalyptische Fakenews, welche Menschen, die sich unkritisch informieren, zu falschem Verhalten verleiten und bei ihnen zusätzlich Angst schüren. Voraussetzung für richtige Information ist die Wahl seriöser Medien, geprüfter Quellen. Faktencheck.
An manchem Morgen wache ich mit dem Gedanken an Corona auf. Die Nachrichten beginnen mit dem Top-Thema, die Zeitungen sind davon voll, das Internet auch; in die Suchmaschine gebe ich nur „Co“ ein, und es wird (gleich nach „Commerzbank“ und „Kohlenstoffmonoxid“) zu „Coronavirus“ ergänzt; seit Wochen enthält jede dritte Email die Absage eines Projekts, einer Veranstaltung oder Zusammenkunft …
Unser Blick droht sich zu verengen. Fehlt uns nicht jetzt besonders in der „globalisierten Welt“ der Weitblick, der uns bescheidener, geduldiger, dankbarer machen könnte, der uns aber auch überfordert? Welche Probleme, Konflikte und Katastrophen finden außer Sars-CoV-2 noch ausreichend Beachtung? Die Not, der Hunger in vielen afrikanischen Ländern, z.B. in Burkina Faso; in Südamerika, z.B. in Venezuela; das Flüchtlingselend auf Lesbos; der Krieg in Syrien; die Zerstörung des Regenwalds, überhaupt die ökologische Krise und die der wachsenden ökonomischen Ungleichheit. Wie luxuriös unser Leben ist, zeigt sich auch daran, dass hier Corona als Thema Nummer eins gilt. In armen Ländern wird es als weniger real und präsent empfunden; die Sorge um Wasser und Lebensmittel und die Angst vor Terror überwiegt dort; die Viruserkrankung kommt zu all dem hinzu.
Unser Blick droht sich zu verengen.
Welche gravierenden politischen Maßnahmen sind auf die ökologische Krise – die seit einem halben Jahrhundert andauert – im Unterschied zur aktuellen erfolgt? Der Weltklimarat IPCC forderte schon vor Jahren „rasche, weitreichende, beispiellose Veränderungen in sämtlichen Bereichen der Gesellschaft.“ Haben wir das erlebt? Auf wen und auf welche Interessen wurde und wird mit übereinstimmender Ignoranz allzu große Rücksicht genommen? (Bei den Bürgerinnen und Bürgern erleben wir ja gerade eine ausreichende Akzeptanz der meisten Ge- und Verbote; die Leute hören auf die Behörden. Auch in der Vergangenheit wurden Einschränkungen ohne Proteste hingenommen, zum Beispiel das Rauchverbot oder das Tempolimit auf Autobahnen in fast allen Ländern der Welt.)
Doch diese ökologische Krise ist für die meisten Menschen der nördlichen Hemisphäre ein noch viel zu abstraktes, noch zu wenig erkennbares Phänomen – die Auswirkungen liegen für uns hier noch zu sehr in der Zukunft. Voraussagen der Wissenschaft sind das eine, sie zu verinnerlichen und in Maßnahmen, bzw. Gewohnheiten umzusetzen etwas anderes. Der April mag noch so sommerlich, das Missverhältnis zwischen Sonnenschein und Regen noch so groß sein – ohne Arg wird von schönem Wetter geredet. Solange Tempolimits nicht gesetzt sind, wird gerast; solange benzinbetriebene Laubgebläse nicht verboten sind, wird mit ihnen umhergelaufen; solange Heizpilze nicht verpönt sind, sitzen Menschen unter ihnen; solange Plastikverpackungen nicht unzulässig sind, werden sie mitgekauft – die Liste ließe sich lange fortsetzen.
Noch sind die Prognosen zur Entwicklung und zu den Folgen der Coronakrise spekulativ. Bezüglich der Klimakatastrophe ist die Faktenlage klarer, das Szenario deutlicher vorhersehbar. Wird die Zahl der Toten durch das Virus Covid 19 an die Zahl derer heranreichen, die weltweit durch Dürre, Hitze und Überschwemmungen sterben? (Die Weltgesundheitsorganisation gibt sie mit 150.000 an – Tendenz steigend.) Aber zählt das und gilt dieser Vergleich? Das eine ist Wetter, das andere Krankheit – wir sind schnell bereit, hausgemachte mit höherer Gewalt zu verwechseln.
Der Tod rückt ins Bewusstsein. So nah, konkret und existenziell bedrohlich ist uns die Veränderung des Klimas noch längst nicht.
Wir erschrecken vor den Bildern aus norditalienischen Krankenhäusern, vor den Leichentransporten in Militärfahrzeugen, vor der steil ansteigenden Kurve infizierter Menschen. Der Tod rückt ins Bewusstsein. So nah, konkret und existenziell bedrohlich ist uns die Veränderung des Klimas noch längst nicht.
Geht es um Bedrohungen, die aus dem Blick geraten, nicht „gefühlt“ werden, weil sie „zu weit weg“ oder verdrängt sind, scheint mir ein weiterer Vergleich angebracht: Seit einem Dreivierteljahrhundert sitzen wir auf dem atomaren Pulverfass, das nicht nur durch einen Konflikt, sondern auch durch ein Versehen, eine Panne, hochgehen kann. Der Zeiger der sogenannten Weltuntergangsuhr steht auf 100 Sekunden vor Mitternacht, so nah vor dem Ende wie noch nie. Das Bulletin of the Atomic Scientists (Berichtsblatt der Atomwissenschaftler) weist neben den Gefahren durch Atombewaffnung und Erderwärmung auf eine dritte hin: die Desinformationskampagnen im Internet. Infodemie nannte es eine Zeitung. Hinzuzufügen wäre die Gefahr durch Beschweigen: Selten ein Partygespräch. Alle diese Gefahren erzeugen noch immer kein ausreichend starkes Bedrohungsgefühl und ein daraus resultierendes Handeln – während Corona rund um die Uhr in aller Munde ist und sich das Verhalten der allermeisten Menschen im Alltag schnell und effektiv verändert.
Unser damaliges Wohnen in einem Zimmer war nicht nur kuschelig, brachte uns nicht nur einander näher, wir gingen uns auch auf die Nerven, der Rückzug war nicht nur Besinnung auf das Wesentliche. Aber das Ende der Ausnahmesituation war ja absehbar: Sobald es wärmer würde, müssten wir nicht mehr heizen, es wäre wieder mehr Platz für jedes Familienmitglied in anderen Zimmern, Freundinnen und Freunde dürften wieder eingeladen werden; und der Ausweg ins Freie lockte zunehmend.
Auch jetzt erwacht die Natur zu neuem Leben, während das „öffentliche Leben“ fast erstirbt. Was passiert inzwischen? Wie stehen wir die epochale Katastrophe durch? Begreifen wir sie als Weckruf? Setzt sie Innovationen in Gang? Lernen wir in und durch die Krise etwas? Können wir aushalten, nicht zu wissen wie lange sie dauert? Nennen wir den Zweiten Weltkrieg und den Kalten Krieg offene Krisen, weil niemand wusste, wie lange sie dauern, dann zeigt sich, welche Potentiale zur Erneuerung der Gesellschaft, der Politik, verschenkt wurden: Keine richtige „Stunde null“ nach dem Krieg, und nach der Auflösung des Warschauer Pakts keine Einrichtung völlig neuer Sicherheitspartnerschaft. Keine wirkliche Neubesinnung. Mitten im Wohlstand, der keineswegs selbstverständlich und wohlverdient war und ist, bahnte sich die nächste durch unmäßigen Ressourcenverbrauch und Naturverschleiß erzeugte (offene) ökologische Krise an.
Eine Gefühlslage zwischen Verharmlosung und Hysterie ist anzustreben; die Erkenntnis vom Ende der Unbeschwertheit.
Auch die (offene) Virus-Krise geht vorüber. Werden ihre globalen Auswirkungen so einschneidend sein – 180 Länder sollen von der Pandemie, ein Viertel der Weltbevölkerung vom Shutdown oder Lockdown betroffen sein – dass die Gefahr, einmal gebannt, nicht gleich wieder in Vergessenheit gerät? Nach der Krise sieht die Welt anders aus, ist sie eine andere – hoffentlich keine schlechtere, vielleicht in mancher Hinsicht eine bessere. Was muss passieren, in der Krise und danach?
Privat muss sie mit den Gefühlen der Beklemmung, der Einsamkeit durch Isolation, der Furcht vor Existenzverlust ausgehalten und irgendwie gestaltet werden. Eine Gefühlslage zwischen Verharmlosung und Hysterie ist anzustreben; die Erkenntnis vom Ende der Unbeschwertheit. Individuell verschieden sind die Herausforderungen an die Psyche, an Eigenschaften wie Geduld, Besinnung auf sich selbst und den engsten Familien- und Freundeskreis. (Es klingt widersprüchlich, dass wir trotz Kontaktsperre und vorgeschriebener Distanzwahrung aufgefordert sind, stärker zusammenzuhalten, weil wir alle doch „in einem Boot“ sitzen.)
Jede Krise hat ihre Chancen. „Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihm nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen“, sagt Max Frisch. Eine völlig neuartige Situation eröffnet auch ungeahnte Möglichkeiten. Notgedrungen durch die Reduzierung des öffentlichen Lebens kann der Einzelne sich mehr mit Dingen beschäftigen, zu denen er sonst kaum gekommen wäre: Neubesinnung auf Muße, Kreativität, Fantasie und Träume. Neue Bezüge zur Welt zu entdecken, zur Natur, zu den Dingen, zur Wissenschaft, zur Kunst, zur Religion. Zu erkennen, mit wie viel weniger Konsumgütern, mit wie viel weniger Reisen – vorausgesetzt, wir konnten sie uns bislang leisten – wir eigentlich auskommen. Dafür in neue Beziehung treten zu sich selbst und zu anderen Menschen; Empathie und Gemeinwohlorientierung entwickeln, Sensibilität für das Wesentliche.
Nimmt gar Zuversicht in der Not zu; Zuversicht, die Informations- und Problembewusstsein nicht ausschließt? Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch, sagt der zuversichtliche Friedrich Hölderlin. Analog zur individuellen Krisen- und Nachkrisengestaltung ist jetzt auch die Gesellschaft insgesamt, die Wissenschaft, besonders die Politik und der Staat, angehalten, auszuhalten und zu gestalten. Jetzt könnte getan werden, was längst als überfällig notwendig erkannt ist. Zum Beispiel sollte Hilfe für Betriebe mit der Auflage verbunden sein, ressourcenschonend und nachhaltig zu produzieren.
Jetzt könnte getan werden, was längst als überfällig notwendig erkannt ist.
Welche Systemfehler aus der Vorkrisenzeit sind in der Krise zu analysieren? Nicht allein die, die zur Krise geführt haben, sondern auch die, welche die nachfolgende ökonomische Krise schwer überwindbar erscheinen lassen – in erster Linie die imperiale Art des Wirtschaftens mit dem Wachstumszwang des Höher, Weiter, Schneller und der Maxime von Profit und Rendite.
In der Demokratie gibt es neben den moralischen Appellen an die Bevölkerung natürlich Streit unter den Expertinnen über die Gefährlichkeit der Pandemie oder über die wirkungsvollsten Schutzmaßnahmen oder ihre Dauer; und unter den Politikern z.B. über die Höhe finanzieller Hilfe für nicht systemrelevante Unternehmen. Wie erwähnt, ist man sich überwiegend erstaunlich einig wie sonst selten, man hört aufeinander; in den Talkshows werden Meinungen sachlich ausgetauscht, das sonst dort übliche Parteiengezänk unterbleibt.
In autokratisch regierten Ländern wird weniger diskutiert. Gefahren können als Fakenews verworfen werden, bis sie nicht mehr zu bestreiten sind, woraufhin reflexhaft Dekrete und Notstandsgesetze erlassen werden, die die Demokratie aushöhlen, oder zum Erliegen bringen. Mit ignoranten, inkompetenten und nationalistisch gesinnten Staatslenkern ist das zur Zeit dringende Zusammenwirken nur eingeschränkt möglich. Bekommen die Globalisierungsgegner und Rechtspopulisten Auftrieb oder geht die Demokratie gestärkt aus dem Stresstest hervor? Das hängt maßgeblich davon ab, wie sich die demokratischen Regierungen in der Krise bewähren und profilieren. Auch davon, ob über die aktuelle Krise hinaus konstruktiv geplant und gehandelt wird – präventiv im Hinblick auf neue Epidemien und schadensbegrenzend in Hinsicht auf die menschengemachte Klimakrise (die strenggenommen, wie oben gesagt, gar keine Krise ist, weil Treibhausgase nicht zurückholbar sind, weil nur die Zunahme der Erderwärmung gebremst werden kann).
Veränderung in allen Lebensbereichen mahnt der IPCC an; das hieße Reformen in der Bildung, der Agrarwirtschaft, des Gesundheitswesens, des Wirtschaftssystems – eine neue Arbeits- und Produktionsethik. Ein bequemes, bedenkenloses Back-to-Business-as-usual darf es deshalb nicht geben.
Viele Länder werden dieses Jahr wohl ihre Klimaziele erreichen.
Die Erde atmet auf.
In diesen Tagen und Wochen erleben wir eine Entlastung der Biosphäre – unbeabsichtigt und gewissermaßen als Kollateral-Erfolg der Coronakrise. Weltweit brechen Produktionszweige ein, der Energieverbrauch geht zurück. Die globale Mobilität, die die Pandemie erst mit möglich gemacht hat, verringert sich: jeder nicht geflogene Kilometer, jede unterlassene Kreuz- und Autofahrt … Die Luft ist besser, die Gewässer klarer, der städtische Lärmpegel niedriger. Viele Länder werden dieses Jahr wohl ihre Klimaziele erreichen. Die Erde atmet auf.
Was Proteste nicht erreichten, gelang dem Virus: Das provokative Militärmanöver „Defender Europe 20“ in Richtung russische Grenze, wurde „kontrolliert beendet“, eingestellt. Dafür sollten 20.000 US-Streitkräfte über den Atlantik geschickt werden. Das Manöver ist als größte „Verlegeübung“ von US-Militär seit 25 Jahren konzipiert gewesen, zusammen mit 18 Nato-Ländern. Auch Truppenübungen in Deutschland wurden abgesagt.
Der Verzicht hat nicht etwa zur Folge, dass „der Russe“ nun militärische Vorteile sähe – im Gegenteil liefert er Hilfsgüter an das Nato-Land Italien. Sowohl die USA und China wollen (wollten) „ungeachtet aller Differenzen“ bei der Bekämpfung der Krise enger zusammenarbeiten als auch Trump und Putin, die beide beteuerten, sich nach Kräften zu unterstützen. Wie schnell sich jedoch der Wind dreht (s. oben), Gesten der Zuneigung mit Schuldzuweisungen abwechseln, zeigte sich gerade im Verhältnis USA – China.
Wie im Kalten Krieg als, trotz militärischer Hochrüstung der Machtblöcke, beispielsweise Kanada an die Sowjetunion Getreide lieferte, sind auch jetzt mit gutem Willen in der Not ideologische Klüfte zu überbrücken. Möge den obersten Befehlshabern die Erkenntnis dämmern, dass es nur gemeinsame „Feinde“ gibt. Dann würde die biblische Forderung „Schwerter zu Pflugscharen“ erweitert: Panzer zu Krankenwagen. Eine zweifelsohne nötige Aufrüstung des Technischen Hilfswerks.
Möge den obersten Befehlshabern die Erkenntnis dämmern, dass es nur gemeinsame „Feinde“ gibt.
Die Welt wird nach der Krise eine andere sein; sie sollte sich jetzt als Schicksalsgemeinschaft verstehen, schrieb kürzlich ein Zeitungskommentator. Jetzt und bald, und von jetzt an immer!
Andere sagen, der Mensch ist nicht geneigt, sich zu verändern. Alles wird wieder wie zuvor. Eine kathartische Wirkung der erzwungenen Nachhaltigkeit bleibt aus. Von Dankbarkeit, dass die Krise überstanden ist, nicht zu reden. Steigerungszwang, Wachstumswahn und Hektik kehren bald zurück nach dieser schnellsten Entschleunigung der Moderne.
Vielleicht erleben wir, über den Pausenmodus hinaus, doch einen Paradigmenwechsel – den Wendepunkt: Vor und nach Corona, werden wir sagen. Und die Einsicht breitet sich aus, dass eine Veränderung des westlichen Lebensstils sowieso fällig war und dass mancher Verzicht auf Gewohntes auch ein Verlust von Entbehrlichem ist und durchaus ein Gewinn an Lebensqualität sein kann, an körperlicher und seelischer Gesundheit.
Und vielleicht werden viele von der Lust ergriffen, die Zivilisation neu zu beleben.
Und um zum Schluss noch einmal Hölderlin reden zu lassen: „Ich glaube an eine künftige Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten, die alles Bisherige schamrot machen wird. Und dazu kann Deutschland vielleicht sehr viel beitragen.“
(Stand 20. April 2020)
Christoph Kuhn, 1951 in Dresden geboren, lebt als Schriftsteller und Journalist in Halle.
Mitglied des VS in ver.di und des PEN.
Zuletzt veröffentlicht: Kein Weg zurück, Erzählungen, 2018. Poesiealbum 348, Gedichte, 2019.
Foto: © Lisa A. Weber | Wikimedia Commons CC BY-SA 4.0