Pan­zer zu Kran­ken­wa­gen. Bedro­hungs­ge­füh­le und Gestal­tungs­zu­ver­sicht. Ein Essay

Neu­lich dach­te ich an einen Win­ter mei­ner Kind­heit in den sech­zi­ger Jah­ren in Dres­den, als die Fami­lie zu fünft nur eins der beheiz­ba­ren Zim­mer bewoh­nen konn­te. Für uns Kin­der span­nend, für die Eltern beängs­ti­gend: Es wür­de wohl noch län­ge­re Zeit kalt blei­ben, und die Koh­len gin­gen zur Nei­ge. Viel­leicht war der Aus­nah­me­zu­stand nur regio­nal begrenzt, offi­zi­ell gab es dar­über kei­ne Infor­ma­tio­nen. In der DDR ist immer irgend­et­was knapp gewe­sen, aber exis­ten­zi­ell wich­ti­ge Din­ge waren meist bald wie­der vor­han­den, auch weil sie aus ein­hei­mi­scher Pro­duk­ti­on stamm­ten. Kommt es heut­zu­ta­ge zu Eng­päs­sen bei Medi­ka­men­ten oder ande­ren täg­lich benö­tig­ten Din­gen, liegt das an „aus­ge­la­ger­ter“ Pro­duk­ti­on, an Lie­fer­ket­ten, die bis in fern­öst­li­che Regio­nen rei­chen und insta­bil wer­den kön­nen – was beson­ders in Kri­sen­zei­ten pre­kär ist. Als Kri­sen wur­den Aus­nah­me­zu­stän­de in der DDR nicht bezeich­net. Kri­sen waren poli­tisch, extern, spiel­ten sich anders­wo ab, tan­gier­ten den All­tag kaum, bei­spiels­wei­se die Kuba-, spä­ter die Falk­land­kri­se. Im Zwei­ten Welt­krieg, wäh­rend des Mau­er­baus, nach dem GAU in Tscher­no­byl – sprach man da von Kri­se, hat­ten wir ein „Kri­sen­ge­fühl“?

(Im Fol­gen­den wird der Begriff Kri­se ver­wen­det, weil er gebräuch­lich ist. In den meis­ten Fäl­len han­delt es sich nicht um Kri­sen, son­dern um blei­ben­de Her­aus­for­de­run­gen, denen mit Scha­dens­be­gren­zung zu begeg­nen ist.)
Ver­glei­che mit ver­gan­ge­nen Zei­ten und ande­ren poli­ti­schen Sys­te­men sind natür­lich gewagt. Doch wenn aktu­ell vom „Her­un­ter­fah­ren des gesell­schaft­li­chen Lebens“ die Rede ist, zeigt sich, wie viel kom­ple­xer und damit fra­gi­ler, abhän­gi­ger und ver­wund­ba­rer unse­re Gesell­schaft gewor­den ist; wie kom­pli­ziert und damit (vor allem auf wirt­schaft­li­cher Ebe­ne) unvor­her­seh­bar fol­gen­reich – aber natür­lich den­noch ohne Alter­na­ti­ve – ein „Her­un­ter­fah­ren“ ist. Eben­so wird das Wie­der-Hoch­fah­ren nicht pro­blem­los von stat­ten gehen.

Im Zwei­ten Welt­krieg, wäh­rend des Mau­er­baus, nach dem GAU in Tscher­no­byl – sprach man da von Kri­se, hat­ten wir ein „Kri­sen­ge­fühl“?

Die Coro­na­kri­se ruft – mehr als die Euro- oder Kli­ma­kri­se – Gefüh­le der Bedro­hung und Angst her­vor, die sich in der Gesell­schaft „anste­ckend“ aus­brei­ten. Sie rückt uns direkt auf den Leib. Jeder will sich und sei­nen Ange­hö­ri­gen die neue unbe­kann­te Krank­heit erspa­ren. Haupt­sa­che Gesund­heit! lau­tet schon immer der häu­figs­te Wunsch. Das Inter­es­se an Infor­ma­tio­nen über Covid-19 ist groß und wird auf allen Kanä­len bedient. Stünd­lich ver­än­dern sich die wis­sen­schaft­li­chen Erkennt­nis­se und die dar­aus ent­ste­hen­den Kon­se­quen­zen. Gleich­zei­tig ver­stär­ken die Nach­rich­ten auch die Ängs­te, wenn die rasch um sich grei­fen­de Pan­de­mie, als Seu­che, größ­te Gefahr seit Jahr­zehn­ten für die Gesell­schaft, die Mensch­heit, ein­ge­ord­net, wenn sie mit Sars, Ebo­la und der Spa­ni­schen Grip­pe ver­gli­chen wird und Anlass gibt, an die Pest zu erin­nern; wenn die Bun­des­kanz­le­rin in ihrer ers­ten Son­der­an­spra­che von einer schwe­ren Prü­fung spricht, von der größ­ten Her­aus­for­de­rung seit dem zwei­ten Welt­krieg, die unse­re Vor­stel­lung von Nor­ma­li­tät infra­ge stellt; wenn wir Begrif­fe hören wie Bewäh­rungs- und Belas­tungs­pro­be, heil­sa­mer Schock, Stress­test für die Gesell­schaft, abso­lu­tes Novum, his­to­ri­scher Markstein ...

Ver­gli­chen mit der Kli­ma­kri­se hört die Poli­tik der meis­ten Staa­ten bes­ser auf Exper­ten­mei­nun­gen, auf For­schungs­er­geb­nis­se, und die Ver­ant­wort­li­chen reagie­ren viel­ge­stal­tig und rela­tiv schnell: Dann muss es ja wirk­lich schlimm sein, sagen wir uns. (Wir ken­nen zudem eher die poli­ti­sche Funk­ti­ons­lo­gik: reagie­ren auf ent­stan­de­ne Umstän­de statt vor­aus­schau­end zu agie­ren. An War­nun­gen fehl­te es nicht, und die WHO hat früh von einer Pan­de­mie gesprochen.)
Einer­seits beru­hi­gen nicht-phar­ma­zeu­ti­sche Inter­ven­tio­nen, also eili­ge dras­ti­sche Schutz­vor­keh­run­gen zur Ver­lang­sa­mung der Virus­aus­brei­tung: Grenz­kon­trol­le, Strei­chung von Flü­gen, Ver­bot öffent­li­cher Ver­an­stal­tun­gen, Schlie­ßung von Schu­len und Frei­zeit­ein­rich­tun­gen, Ein­schrän­kung der Bewe­gungs­frei­heit, Aus­gangs­sper­re, Aus­ru­fung des Kata­stro­phen­falls, des Aus­nah­me-, Alarm- oder Not­stands­falls, Mund­schutz­pflicht ... Ande­rer­seits wächst die Befürch­tung, sel­ber die­se Krank­heit zu krie­gen – oder eine ande­re schwe­re, bei der einem dann nicht genug Hil­fe zuteil wird, wenn sogar das Kran­ken­haus­we­sen über­for­dert sein könnte.

An man­chem Mor­gen wache
ich mit dem Gedan­ken an Coro­na auf.

Bedroh­lich sind zudem die Epi­phä­no­me­ne: feh­len­de Schutz­klei­dung und -mas­ken, der Man­gel an Lebens­mit­teln wegen Hams­ter­käu­fen. Und immer noch kur­sie­ren­de Ver­schwö­rungs­theo­rien: Das Virus wur­de in ame­ri­ka­ni­schen, chi­ne­si­schen oder rus­si­schen Bio­waf­fen­la­bors erzeugt; es dient als Brand­be­schleu­ni­ger einer bal­di­gen Revo­lu­ti­on, die Maß­re­geln sol­len das Volk auf einen Sys­tem­wech­sel vor­be­rei­ten usw. – apo­ka­lyp­ti­sche Fake­news, wel­che Men­schen, die sich unkri­tisch infor­mie­ren, zu fal­schem Ver­hal­ten ver­lei­ten und bei ihnen zusätz­lich Angst schü­ren. Vor­aus­set­zung für rich­ti­ge Infor­ma­ti­on ist die Wahl seriö­ser Medi­en, geprüf­ter Quel­len. Faktencheck.

An man­chem Mor­gen wache ich mit dem Gedan­ken an Coro­na auf. Die Nach­rich­ten begin­nen mit dem Top-The­ma, die Zei­tun­gen sind davon voll, das Inter­net auch; in die Such­ma­schi­ne gebe ich nur „Co“ ein, und es wird (gleich nach „Com­merz­bank“ und „Koh­len­stoff­mon­oxid“) zu „Coro­na­vi­rus“ ergänzt; seit Wochen ent­hält jede drit­te Email die Absa­ge eines Pro­jekts, einer Ver­an­stal­tung oder Zusammenkunft …

Unser Blick droht sich zu ver­en­gen. Fehlt uns nicht jetzt beson­ders in der „glo­ba­li­sier­ten Welt“ der Weit­blick, der uns beschei­de­ner, gedul­di­ger, dank­ba­rer machen könn­te, der uns aber auch über­for­dert? Wel­che Pro­ble­me, Kon­flik­te und Kata­stro­phen fin­den außer Sars-CoV-2 noch aus­rei­chend Beach­tung? Die Not, der Hun­ger in vie­len afri­ka­ni­schen Län­dern, z.B. in Bur­ki­na Faso; in Süd­ame­ri­ka, z.B. in Vene­zue­la; das Flücht­lings­elend auf Les­bos; der Krieg in Syri­en; die Zer­stö­rung des Regen­walds, über­haupt die öko­lo­gi­sche Kri­se und die der wach­sen­den öko­no­mi­schen Ungleich­heit. Wie luxu­ri­ös unser Leben ist, zeigt sich auch dar­an, dass hier Coro­na als The­ma Num­mer eins gilt. In armen Län­dern wird es als weni­ger real und prä­sent emp­fun­den; die Sor­ge um Was­ser und Lebens­mit­tel und die Angst vor Ter­ror über­wiegt dort; die Virus­er­kran­kung kommt zu all dem hinzu.

Unser Blick droht sich zu verengen.

Wel­che gra­vie­ren­den poli­ti­schen Maß­nah­men sind auf die öko­lo­gi­sche Kri­se – die seit einem hal­ben Jahr­hun­dert andau­ert – im Unter­schied zur aktu­el­len erfolgt? Der Welt­kli­ma­rat IPCC for­der­te schon vor Jah­ren „rasche, weit­rei­chen­de, bei­spiel­lo­se Ver­än­de­run­gen in sämt­li­chen Berei­chen der Gesell­schaft.“ Haben wir das erlebt? Auf wen und auf wel­che Inter­es­sen wur­de und wird mit über­ein­stim­men­der Igno­ranz all­zu gro­ße Rück­sicht genom­men? (Bei den Bür­ge­rin­nen und Bür­gern erle­ben wir ja gera­de eine aus­rei­chen­de Akzep­tanz der meis­ten Ge- und Ver­bo­te; die Leu­te hören auf die Behör­den. Auch in der Ver­gan­gen­heit wur­den Ein­schrän­kun­gen ohne Pro­tes­te hin­ge­nom­men, zum Bei­spiel das Rauch­ver­bot oder das Tem­po­li­mit auf Auto­bah­nen in fast allen Län­dern der Welt.)

Doch die­se öko­lo­gi­sche Kri­se ist für die meis­ten Men­schen der nörd­li­chen Hemi­sphä­re ein noch viel zu abs­trak­tes, noch zu wenig erkenn­ba­res Phä­no­men – die Aus­wir­kun­gen lie­gen für uns hier noch zu sehr in der Zukunft. Vor­aus­sa­gen der Wis­sen­schaft sind das eine, sie zu ver­in­ner­li­chen und in Maß­nah­men, bzw. Gewohn­hei­ten umzu­set­zen etwas ande­res. Der April mag noch so som­mer­lich, das Miss­ver­hält­nis zwi­schen Son­nen­schein und Regen noch so groß sein – ohne Arg wird von schö­nem Wet­ter gere­det. Solan­ge Tem­po­li­mits nicht gesetzt sind, wird gerast; solan­ge ben­zin­be­trie­be­ne Laub­ge­blä­se nicht ver­bo­ten sind, wird mit ihnen umher­ge­lau­fen; solan­ge Heiz­pil­ze nicht ver­pönt sind, sit­zen Men­schen unter ihnen; solan­ge Plas­tik­ver­pa­ckun­gen nicht unzu­läs­sig sind, wer­den sie mit­ge­kauft – die Lis­te lie­ße sich lan­ge fortsetzen.

Noch sind die Pro­gno­sen zur Ent­wick­lung und zu den Fol­gen der Coro­na­kri­se spe­ku­la­tiv. Bezüg­lich der Kli­ma­ka­ta­stro­phe ist die Fak­ten­la­ge kla­rer, das Sze­na­rio deut­li­cher vor­her­seh­bar. Wird die Zahl der Toten durch das Virus Covid 19 an die Zahl derer her­an­rei­chen, die welt­weit durch Dür­re, Hit­ze und Über­schwem­mun­gen ster­ben? (Die Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­ti­on gibt sie mit 150.000 an – Ten­denz stei­gend.) Aber zählt das und gilt die­ser Ver­gleich? Das eine ist Wet­ter, das ande­re Krank­heit – wir sind schnell bereit, haus­ge­mach­te mit höhe­rer Gewalt zu verwechseln.

Der Tod rückt ins Bewusst­sein. So nah, kon­kret und exis­ten­zi­ell bedroh­lich ist uns die Ver­än­de­rung des Kli­mas noch längst nicht.

Wir erschre­cken vor den Bil­dern aus nord­ita­lie­ni­schen Kran­ken­häu­sern, vor den Lei­chen­trans­por­ten in Mili­tär­fahr­zeu­gen, vor der steil anstei­gen­den Kur­ve infi­zier­ter Men­schen. Der Tod rückt ins Bewusst­sein. So nah, kon­kret und exis­ten­zi­ell bedroh­lich ist uns die Ver­än­de­rung des Kli­mas noch längst nicht.
Geht es um Bedro­hun­gen, die aus dem Blick gera­ten, nicht „gefühlt“ wer­den, weil sie „zu weit weg“ oder ver­drängt sind, scheint mir ein wei­te­rer Ver­gleich ange­bracht: Seit einem Drei­vier­tel­jahr­hun­dert sit­zen wir auf dem ato­ma­ren Pul­ver­fass, das nicht nur durch einen Kon­flikt, son­dern auch durch ein Ver­se­hen, eine Pan­ne, hoch­ge­hen kann. Der Zei­ger der soge­nann­ten Welt­un­ter­gangs­uhr steht auf 100 Sekun­den vor Mit­ter­nacht, so nah vor dem Ende wie noch nie. Das Bul­le­tin of the Ato­mic Sci­en­tists (Berichts­blatt der Atom­wis­sen­schaft­ler) weist neben den Gefah­ren durch Atom­be­waff­nung und Erd­er­wär­mung auf eine drit­te hin: die Des­in­for­ma­ti­ons­kam­pa­gnen im Inter­net. Info­de­mie nann­te es eine Zei­tung. Hin­zu­zu­fü­gen wäre die Gefahr durch Beschwei­gen: Sel­ten ein Par­ty­ge­spräch. Alle die­se Gefah­ren erzeu­gen noch immer kein aus­rei­chend star­kes Bedro­hungs­ge­fühl und ein dar­aus resul­tie­ren­des Han­deln – wäh­rend Coro­na rund um die Uhr in aller Mun­de ist und sich das Ver­hal­ten der aller­meis­ten Men­schen im All­tag schnell und effek­tiv verändert.

Unser dama­li­ges Woh­nen in einem Zim­mer war nicht nur kusche­lig, brach­te uns nicht nur ein­an­der näher, wir gin­gen uns auch auf die Ner­ven, der Rück­zug war nicht nur Besin­nung auf das Wesent­li­che. Aber das Ende der Aus­nah­me­si­tua­ti­on war ja abseh­bar: Sobald es wär­mer wür­de, müss­ten wir nicht mehr hei­zen, es wäre wie­der mehr Platz für jedes Fami­li­en­mit­glied in ande­ren Zim­mern, Freun­din­nen und Freun­de dürf­ten wie­der ein­ge­la­den wer­den; und der Aus­weg ins Freie lock­te zunehmend.

Auch jetzt erwacht die Natur zu neu­em Leben, wäh­rend das „öffent­li­che Leben“ fast erstirbt. Was pas­siert inzwi­schen? Wie ste­hen wir die epo­cha­le Kata­stro­phe durch? Begrei­fen wir sie als Weck­ruf? Setzt sie Inno­va­tio­nen in Gang? Ler­nen wir in und durch die Kri­se etwas? Kön­nen wir aus­hal­ten, nicht zu wis­sen wie lan­ge sie dau­ert? Nen­nen wir den Zwei­ten Welt­krieg und den Kal­ten Krieg offe­ne Kri­sen, weil nie­mand wuss­te, wie lan­ge sie dau­ern, dann zeigt sich, wel­che Poten­tia­le zur Erneue­rung der Gesell­schaft, der Poli­tik, ver­schenkt wur­den: Kei­ne rich­ti­ge „Stun­de null“ nach dem Krieg, und nach der Auf­lö­sung des War­schau­er Pakts kei­ne Ein­rich­tung völ­lig neu­er Sicher­heits­part­ner­schaft. Kei­ne wirk­li­che Neu­be­sin­nung. Mit­ten im Wohl­stand, der kei­nes­wegs selbst­ver­ständ­lich und wohl­ver­dient war und ist, bahn­te sich die nächs­te durch unmä­ßi­gen Res­sour­cen­ver­brauch und Natur­ver­schleiß erzeug­te (offe­ne) öko­lo­gi­sche Kri­se an.

Eine Gefühls­la­ge zwi­schen Ver­harm­lo­sung und Hys­te­rie ist anzu­stre­ben; die Erkennt­nis vom Ende der Unbeschwertheit.

Auch die (offe­ne) Virus-Kri­se geht vor­über. Wer­den ihre glo­ba­len Aus­wir­kun­gen so ein­schnei­dend sein – 180 Län­der sol­len von der Pan­de­mie, ein Vier­tel der Welt­be­völ­ke­rung vom Shut­down oder Lock­down betrof­fen sein – dass die Gefahr, ein­mal gebannt, nicht gleich wie­der in Ver­ges­sen­heit gerät? Nach der Kri­se sieht die Welt anders aus, ist sie eine ande­re – hof­fent­lich kei­ne schlech­te­re, viel­leicht in man­cher Hin­sicht eine bes­se­re. Was muss pas­sie­ren, in der Kri­se und danach?

Pri­vat muss sie mit den Gefüh­len der Beklem­mung, der Ein­sam­keit durch Iso­la­ti­on, der Furcht vor Exis­tenz­ver­lust aus­ge­hal­ten und irgend­wie gestal­tet wer­den. Eine Gefühls­la­ge zwi­schen Ver­harm­lo­sung und Hys­te­rie ist anzu­stre­ben; die Erkennt­nis vom Ende der Unbe­schwert­heit. Indi­vi­du­ell ver­schie­den sind die Her­aus­for­de­run­gen an die Psy­che, an Eigen­schaf­ten wie Geduld, Besin­nung auf sich selbst und den engs­ten Fami­li­en- und Freun­des­kreis. (Es klingt wider­sprüch­lich, dass wir trotz Kon­takt­sper­re und vor­ge­schrie­be­ner Distanz­wah­rung auf­ge­for­dert sind, stär­ker zusam­men­zu­hal­ten, weil wir alle doch „in einem Boot“ sitzen.)
Jede Kri­se hat ihre Chan­cen. „Kri­se ist ein pro­duk­ti­ver Zustand. Man muss ihm nur den Bei­geschmack der Kata­stro­phe neh­men“, sagt Max Frisch. Eine völ­lig neu­ar­ti­ge Situa­ti­on eröff­net auch unge­ahn­te Mög­lich­kei­ten. Not­ge­drun­gen durch die Redu­zie­rung des öffent­li­chen Lebens kann der Ein­zel­ne sich mehr mit Din­gen beschäf­ti­gen, zu denen er sonst kaum gekom­men wäre: Neu­be­sin­nung auf Muße, Krea­ti­vi­tät, Fan­ta­sie und Träu­me. Neue Bezü­ge zur Welt zu ent­de­cken, zur Natur, zu den Din­gen, zur Wis­sen­schaft, zur Kunst, zur Reli­gi­on. Zu erken­nen, mit wie viel weni­ger Kon­sum­gü­tern, mit wie viel weni­ger Rei­sen – vor­aus­ge­setzt, wir konn­ten sie uns bis­lang leis­ten – wir eigent­lich aus­kom­men. Dafür in neue Bezie­hung tre­ten zu sich selbst und zu ande­ren Men­schen; Empa­thie und Gemein­wohl­ori­en­tie­rung ent­wi­ckeln, Sen­si­bi­li­tät für das Wesentliche.

Nimmt gar Zuver­sicht in der Not zu; Zuver­sicht, die Infor­ma­ti­ons- und Pro­blem­be­wusst­sein nicht aus­schließt? Wo Gefahr ist, wächst das Ret­ten­de auch, sagt der zuver­sicht­li­che Fried­rich Höl­der­lin. Ana­log zur indi­vi­du­el­len Kri­sen- und Nach­kri­sen­ge­stal­tung ist jetzt auch die Gesell­schaft ins­ge­samt, die Wis­sen­schaft, beson­ders die Poli­tik und der Staat, ange­hal­ten, aus­zu­hal­ten und zu gestal­ten. Jetzt könn­te getan wer­den, was längst als über­fäl­lig not­wen­dig erkannt ist. Zum Bei­spiel soll­te Hil­fe für Betrie­be mit der Auf­la­ge ver­bun­den sein, res­sour­cen­scho­nend und nach­hal­tig zu produzieren.

Jetzt könn­te getan wer­den, was längst als über­fäl­lig not­wen­dig erkannt ist.

Wel­che Sys­tem­feh­ler aus der Vor­kri­sen­zeit sind in der Kri­se zu ana­ly­sie­ren? Nicht allein die, die zur Kri­se geführt haben, son­dern auch die, wel­che die nach­fol­gen­de öko­no­mi­sche Kri­se schwer über­wind­bar erschei­nen las­sen – in ers­ter Linie die impe­ria­le Art des Wirt­schaf­tens mit dem Wachs­tums­zwang des Höher, Wei­ter, Schnel­ler und der Maxi­me von Pro­fit und Rendite.
In der Demo­kra­tie gibt es neben den mora­li­schen Appel­len an die Bevöl­ke­rung natür­lich Streit unter den Exper­tin­nen über die Gefähr­lich­keit der Pan­de­mie oder über die wir­kungs­volls­ten Schutz­maß­nah­men oder ihre Dau­er; und unter den Poli­ti­kern z.B. über die Höhe finan­zi­el­ler Hil­fe für nicht sys­tem­re­le­van­te Unter­neh­men. Wie erwähnt, ist man sich über­wie­gend erstaun­lich einig wie sonst sel­ten, man hört auf­ein­an­der; in den Talk­shows wer­den Mei­nun­gen sach­lich aus­ge­tauscht, das sonst dort übli­che Par­tei­en­gezänk unterbleibt.

In auto­kra­tisch regier­ten Län­dern wird weni­ger dis­ku­tiert. Gefah­ren kön­nen als Fake­news ver­wor­fen wer­den, bis sie nicht mehr zu bestrei­ten sind, wor­auf­hin reflex­haft Dekre­te und Not­stands­ge­set­ze erlas­sen wer­den, die die Demo­kra­tie aus­höh­len, oder zum Erlie­gen brin­gen. Mit igno­ran­ten, inkom­pe­ten­ten und natio­na­lis­tisch gesinn­ten Staats­len­kern ist das zur Zeit drin­gen­de Zusam­men­wir­ken nur ein­ge­schränkt mög­lich. Bekom­men die Glo­ba­li­sie­rungs­geg­ner und Rechts­po­pu­lis­ten Auf­trieb oder geht die Demo­kra­tie gestärkt aus dem Stress­test her­vor? Das hängt maß­geb­lich davon ab, wie sich die demo­kra­ti­schen Regie­run­gen in der Kri­se bewäh­ren und pro­fi­lie­ren. Auch davon, ob über die aktu­el­le Kri­se hin­aus kon­struk­tiv geplant und gehan­delt wird – prä­ven­tiv im Hin­blick auf neue Epi­de­mien und scha­dens­be­gren­zend in Hin­sicht auf die men­schen­ge­mach­te Kli­ma­kri­se (die streng­ge­nom­men, wie oben gesagt, gar kei­ne Kri­se ist, weil Treib­haus­ga­se nicht zurück­hol­bar sind, weil nur die Zunah­me der Erd­er­wär­mung gebremst wer­den kann).
Ver­än­de­rung in allen Lebens­be­rei­chen mahnt der IPCC an; das hie­ße Refor­men in der Bil­dung, der Agrar­wirt­schaft, des Gesund­heits­we­sens, des Wirt­schafts­sys­tems – eine neue Arbeits- und Pro­duk­ti­ons­ethik. Ein beque­mes, beden­ken­lo­ses Back-to-Busi­ness-as-usu­al darf es des­halb nicht geben.

Vie­le Län­der wer­den die­ses Jahr wohl ihre Kli­ma­zie­le erreichen.
Die Erde atmet auf.

In die­sen Tagen und Wochen erle­ben wir eine Ent­las­tung der Bio­sphä­re – unbe­ab­sich­tigt und gewis­ser­ma­ßen als Kol­la­te­ral-Erfolg der Coro­na­kri­se. Welt­weit bre­chen Pro­duk­ti­ons­zwei­ge ein, der Ener­gie­ver­brauch geht zurück. Die glo­ba­le Mobi­li­tät, die die Pan­de­mie erst mit mög­lich gemacht hat, ver­rin­gert sich: jeder nicht geflo­ge­ne Kilo­me­ter, jede unter­las­se­ne Kreuz- und Auto­fahrt … Die Luft ist bes­ser, die Gewäs­ser kla­rer, der städ­ti­sche Lärm­pe­gel nied­ri­ger. Vie­le Län­der wer­den die­ses Jahr wohl ihre Kli­ma­zie­le errei­chen. Die Erde atmet auf.

Was Pro­tes­te nicht erreich­ten, gelang dem Virus: Das pro­vo­ka­ti­ve Mili­tär­ma­nö­ver „Defen­der Euro­pe 20“ in Rich­tung rus­si­sche Gren­ze, wur­de „kon­trol­liert been­det“, ein­ge­stellt. Dafür soll­ten 20.000 US-Streit­kräf­te über den Atlan­tik geschickt wer­den. Das Manö­ver ist als größ­te „Ver­le­ge­übung“ von US-Mili­tär seit 25 Jah­ren kon­zi­piert gewe­sen, zusam­men mit 18 Nato-Län­dern. Auch Trup­pen­übun­gen in Deutsch­land wur­den abgesagt.

Der Ver­zicht hat nicht etwa zur Fol­ge, dass „der Rus­se“ nun mili­tä­ri­sche Vor­tei­le sähe – im Gegen­teil lie­fert er Hilfs­gü­ter an das Nato-Land Ita­li­en. Sowohl die USA und Chi­na wol­len (woll­ten) „unge­ach­tet aller Dif­fe­ren­zen“ bei der Bekämp­fung der Kri­se enger zusam­men­ar­bei­ten als auch Trump und Putin, die bei­de beteu­er­ten, sich nach Kräf­ten zu unter­stüt­zen. Wie schnell sich jedoch der Wind dreht (s. oben), Ges­ten der Zunei­gung mit Schuld­zu­wei­sun­gen abwech­seln, zeig­te sich gera­de im Ver­hält­nis USA – China.
Wie im Kal­ten Krieg als, trotz mili­tä­ri­scher Hoch­rüs­tung der Macht­blö­cke, bei­spiels­wei­se Kana­da an die Sowjet­uni­on Getrei­de lie­fer­te, sind auch jetzt mit gutem Wil­len in der Not ideo­lo­gi­sche Klüf­te zu über­brü­cken. Möge den obers­ten Befehls­ha­bern die Erkennt­nis däm­mern, dass es nur gemein­sa­me „Fein­de“ gibt. Dann wür­de die bibli­sche For­de­rung „Schwer­ter zu Pflug­scha­ren“ erwei­tert: Pan­zer zu Kran­ken­wa­gen. Eine zwei­fels­oh­ne nöti­ge Auf­rüs­tung des Tech­ni­schen Hilfswerks.

Möge den obers­ten Befehls­ha­bern die Erkennt­nis däm­mern, dass es nur gemein­sa­me „Fein­de“ gibt.

Die Welt wird nach der Kri­se eine ande­re sein; sie soll­te sich jetzt als Schick­sals­ge­mein­schaft ver­ste­hen, schrieb kürz­lich ein Zei­tungs­kom­men­ta­tor. Jetzt und bald, und von jetzt an immer!
Ande­re sagen, der Mensch ist nicht geneigt, sich zu ver­än­dern. Alles wird wie­der wie zuvor. Eine kathar­ti­sche Wir­kung der erzwun­ge­nen Nach­hal­tig­keit bleibt aus. Von Dank­bar­keit, dass die Kri­se über­stan­den ist, nicht zu reden. Stei­ge­rungs­zwang, Wachs­tums­wahn und Hek­tik keh­ren bald zurück nach die­ser schnells­ten Ent­schleu­ni­gung der Moderne.
Viel­leicht erle­ben wir, über den Pau­sen­mo­dus hin­aus, doch einen Para­dig­men­wech­sel – den Wen­de­punkt: Vor und nach Coro­na, wer­den wir sagen. Und die Ein­sicht brei­tet sich aus, dass eine Ver­än­de­rung des west­li­chen Lebens­stils sowie­so fäl­lig war und dass man­cher Ver­zicht auf Gewohn­tes auch ein Ver­lust von Ent­behr­li­chem ist und durch­aus ein Gewinn an Lebens­qua­li­tät sein kann, an kör­per­li­cher und see­li­scher Gesundheit.

Und viel­leicht wer­den vie­le von der Lust ergrif­fen, die Zivi­li­sa­ti­on neu zu beleben.
Und um zum Schluss noch ein­mal Höl­der­lin reden zu las­sen: „Ich glau­be an eine künf­ti­ge Revo­lu­ti­on der Gesin­nun­gen und Vor­stel­lungs­ar­ten, die alles Bis­he­ri­ge scham­rot machen wird. Und dazu kann Deutsch­land viel­leicht sehr viel beitragen.“

(Stand 20. April 2020)

Christoph Kuhn (2010)

Chris­toph Kuhn, 1951 in Dres­den gebo­ren, lebt als Schrift­stel­ler und Jour­na­list in Halle. 
Mit­glied des VS in ver.di und des PEN. 
Zuletzt ver­öf­fent­licht: Kein Weg zurück, Erzäh­lun­gen, 2018. Poe­sie­al­bum 348, Gedich­te, 2019.

Foto: © Lisa A. Weber | Wiki­me­dia Com­mons CC BY-SA 4.0






 

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