Alternativmedizin hat eine lange Tradition in Deutschland und ist verbunden mit Teilen der „Grünen Bewegung“. Vor einigen Jahren wurden Methoden der Chinesischen Medizin noch belächelt. Heute bieten auch „Schulmedizinerinnen“ Akupunktur an. Derzeit wird über den Sinn und Unsinn von Homöopathie gestritten. Infolge des fragwürdigen neuen Masernimpfgesetzes entbrannten – angeheizt durch die Corona-Krise – hitzige Debatten, die in Demonstrationen von Impfgegner*innen gipfelten.
Viele Menschen möchten die Verantwortung für ihre eigene Gesunderhaltung und die ihrer Kinder übernehmen und sie nicht der Schulmedizin und der damit eng verbundenen Pharma-Industrie überlassen. Sie berufen sich dabei auf das Konzept der Salutogenese, das sich auf die Entstehung und Erhaltung der Gesundheit bezieht. Es misst der Prävention große Bedeutung bei und betont die Suche nach Faktoren, welche die Aufrechterhaltung von Gesundheit bedingen. Salus kommt aus dem Lateinischen und bedeutet Gesundheit, Genese heißt wörtlich übersetzt Entstehung. Die Salutogenese kann also als Gegenstück zur Pathogenese betrachtet werden. Diese beschreibt die Entstehung von Krankheit. Der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky entwickelte ein theoretisches Modell zu den Eigenschaften, die mensch braucht, um gesund zu sein.
Pathogenese versucht, Krankheit zu vermeiden oder zu bekämpfen.
Salutogenese dagegen versucht, ein attraktives Gesundheitsziel zu setzen.
Durch Antonovskys Studie zu körpereigenen Ressourcen von Frauen, die trotz schlimmer Erlebnisse in faschistischen Konzentrationslagern körperlich und geistig gesund blieben, wurde der Fokus der Wissenschaft auf die Pathogenese um Aspekte der Salutogenese ergänzt. In der Herangehensweise an eine Erkrankung gibt es große Unterschiede. Pathogenese versucht, Krankheit zu vermeiden oder zu bekämpfen. Salutogenese dagegen versucht, ein attraktives Gesundheitsziel zu setzen. Nicht das Verbieten von Rauchen zur Verhinderung schwerer Krankheiten steht dann im Vordergrund, sondern jenes umfassende Wohlbefinden, das sich einstellt, sobald das Laster überwunden ist.
Kohärenzgefühl und Resilienz
Eng mit der Salutogenese verbundene Begriffe sind Kohärenzgefühl und Resilienz. Das erstere wurde von Antonovsky geprägt und meint ein Zugehörigkeitsgefühl und eine tiefe innere Zufriedenheit mit sich selbst und anderen. Menschen, die innerhalb der ersten 20 Jahre ihres Lebens dieses Vertrauen entwickelten, könnten mit einschneidenden Erlebnissen, stressigen Lebensphasen und Erkrankungen besser umgehen und seien dementsprechend gesünder. Resilienz bedeutet so viel wie Widerstandsfähigkeit. Je widerstandsfähiger wir seien, je besser unser Körper Störungen abwehren könne, desto gesünder blieben wir.
Natürlich ist es richtig, dass die Menschen Selbstsorge betreiben. Wer informiert ist, weiß auch um die Gefahren für den einzelnen Menschen und die gesamte Umwelt, die beispielsweise mit der Einnahme von Antibiotika verbunden sind, und wird dies weitestgehend vermeiden. Und dennoch gibt es viele, die zwar wissen, was ungesund ist, aber es nicht schaffen, das Gesunde zu tun. Oder sie nehmen ungesunde Arbeits- und Lebensumstände hin, um ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familien zu sichern. Vom globalen Süden ganz zu schweigen. Selbst jemandem wie mir, die sich gesund ernährt, viel bewegt, auf sich achtet, Medikamente meidet und niemals ernsthaft krank war, kann es passieren, dass eine Ärztin die Diagnose stellt: „Sie rauchen nicht, sie trinken nicht, sie haben kein Übergewicht. Aber ich muss Ihnen sagen, sie haben Krebs.“ Was macht die Patientin in diesem Fall? Versucht sie es mit der Misteltherapie oder wählt sie die radikale Lösung, welche die Schulmedizin bietet?
Es braucht aufgeklärte, engagierte Bürgerinnen und Bürger
Vielleicht muss man einfach dran glauben. Beides kann schiefgehen, muss aber nicht. Resilienz und Kohärenzgefühl sind sicherlich wichtige Kriterien. Ich sehe allerdings eine Gefahr darin, diese in den Mittelpunkt zu stellen, so wie es bei den Gläubigern der Salutogenese häufig geschieht. Das klingt mir verdammt nach Sozialdarwinismus: The survival of the fittest. – Nur die Stärksten oder Cleversten werden überleben.
Wie ist das, wenn ein Kind mit einer Erbkrankheit geboren wird? Ein Hoch auf die Pharmaindustrie, die endlich, obwohl es sich eigentlich nicht lohnt, ein Medikament zur Behandlung der Mukoviszidose bei Kindern auf den Markt bringen wird. Diese Krankheit betrifft überwiegend Menschen der nördlichen Hemisphäre. Wie reagiert die Pharmabranche auf Krankheiten, die im Süden weit verbreitet sind? – Gar nicht.
Regionale Ortskrankenkassen und gemeinschaftlich organisierte Gesundheitsverbände wären eine mögliche Alternative zum schwerfälligen Gesundheitsapparat.
Mein Fazit: Salutogenese ist ein interessanter Aspekt der Gesundheitsfürsorge. In allen Teilen der Welt sollten soziale Verhältnisse geschaffen werden, die der Gesunderhaltung dienen. Die Pharmamedizin gehört eingeschränkt in ihrem Gebaren nach maximalem Profit. Hier können aufgeklärte, engagierte Bürgerinnen und Bürger viel erreichen. Der Ansatz, dass Vorbeugen besser als Heilen ist, wird von den existierenden Krankenkassen längst verfolgt. Allerdings gibt es in diesem Bereich viele bürokratische Hürden und man setzt mehr auf Verbote statt auf das Erreichen attraktiver Gesundheitsziele. Regionale Ortskrankenkassen und gemeinschaftlich organisierte Gesundheitsverbände wären eine mögliche Alternative zum schwerfälligen Gesundheitsapparat.
Solveig Feldmeier