Kri­ti­sches Podi­um zur (Nicht-) Poli­tik der 'Zei­ten­wen­de'

Vor dem Hin­ter­grund des Ukrai­ne­krie­ges fin­det in die­sem Früh­jahr an der Uni Hal­le eine bemer­kens­wer­te Ring­vor­le­sung zur so genann­ten 'Zei­ten­wen­de' statt. Die Gast­vor­trä­ge und anschlie­ßen­den Podi­ums­dis­kus­sio­nen wid­men sich den drän­gen­den poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Fra­ge­stel­lun­gen, die seit seit dem Febru­ar 2022 offen­kun­dig gewor­den sind. Part­ner der Rei­he ist die Fried­rich-Ebert-Stif­tung, feder­füh­rend der Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Prof. Johan­nes Varwick. 

Bei den ers­ten bei­den Ver­an­stal­tun­gen wur­de der Sta­tus Quo und die ver­schie­de­nen Optio­nen in den der­zei­ti­gen Kriegs­lo­gi­ken erör­tert, gefolgt von einer Ver­an­stal­tung zur herr­schen­den Spra­che des Krie­ges in der poli­ti­schen und media­len Debat­te. Am Don­ners­tag vor Pfings­ten gab es dann vor reich­lich inter­es­sier­tem Publi­kum eine Forums­ver­an­stal­tung zu den mög­li­chen oder unmög­li­chen Per­spek­ti­ven einer zukünf­ti­gen euro­päi­schen Sicher­heits­ar­chi­tek­tur. Zu Gast waren der ehe­ma­li­ge NATO-Bera­ter Bri­ga­de­ge­ne­ral Hel­mut W. Gan­ser, der deut­sche Ex-Diplo­mat Rüdi­ger Lüde­king sowie die poli­ti­sche Ana­lys­tin Dr. Alex­an­dra Sitenko .

Die drei Gäs­te leg­ten ihre teils unter­schied­li­chen Ansich­ten zu den mög­li­chen Sze­na­ri­en dar. Aus der Sicht von Alex­an­dra Siten­ko ent­wi­ckelt sich die der­zei­ti­ge poli­ti­sche Welt­kar­te deut­lich hin zu einer mul­ti­po­la­ren Welt­ord­nung. Dar­aus fol­ge für sie das dring­li­che Gebot an den Wes­ten, die eige­ne kon­fron­ta­ti­ve Poli­tik kri­tisch in Fra­ge zu stel­len. Es kom­me viel­mehr dar­auf an, die Posi­tio­nen ande­rer Län­der und Kul­tur­krei­se wahr­zu­neh­men und deren Posi­tio­nen in der eige­nen Per­spek­ti­ve Raum zu geben, anstatt die­se mit dem eige­nen bedin­gungs­los ver­tre­ten Wer­te­ka­non vor den Kopf zu sto­ßen. Als Bei­spiel für ver­fehl­tes west­li­ches Han­deln mit nega­ti­ven Fol­gen brach­te Siten­ko das ego­is­ti­sche Ver­hal­ten des Wes­tens in der Coro­na-Kri­se an. Wäh­rend die west­li­chen Staa­ten alle ver­füg­ba­ren Impf­stof­fe am Markt für sich selbst auf­kauf­ten und zuerst für die eige­ne Bevöl­ke­rung reser­vier­ten, belie­fer­ten Indi­en, Chi­na und Russ­land die latein­ame­ri­ka­ni­sche Welt mit den drin­gend benö­tig­ten Medi­ka­men­ten. Das aber zei­tigt nun in der Ukrai­ne-Kri­se ihre Aus­wir­kun­gen, etwa als Indi­en und Chi­na sich bei die jüngs­ten UNO-Reso­lu­tio­nen gegen Russ­land ent­hiel­ten und Bra­si­li­en nur auf Druck zustimmte.

Der Bri­ga­de­ge­ne­ral a.D. Hel­mut Gan­ser sieht eine Mit­ver­ant­wor­tung des Wes­tens an der ent­stan­de­nen Eska­la­ti­on. Der ehe­ma­li­ge NATO-Stab­s­an­ge­hö­ri­ge kri­ti­siert an der heu­ti­gen deut­schen und euro­päi­schen Außen­po­li­tik das voll­stän­di­ge Aus­blei­ben von Diplo­ma­tie, wie sie für die poli­ti­sche Kul­tur selbst des Kal­ten Krie­ges noch selbst­ver­ständ­lich war. Das ein­sei­ti­ge kon­fron­ta­ti­ve Agie­ren mit den Schlag­wor­ten einer vor­ge­hal­te­nen Wer­te­dok­trin füh­re dazu, dass poli­ti­sche Lösun­gen weit außer Sicht­wei­se gera­ten und Mili­tär­lo­gi­ken das Gesche­hen bestim­men könn­ten. Weit­aus bes­ser und lösungs­ori­en­tier­ter wäre es aus sei­ner Sicht, wenn der Wes­ten sei­ne eige­nen Inter­es­sen for­mu­lie­ren wür­de und sich dar­über mit ande­ren ins Beneh­men set­zen könn­te. Als bri­san­tes Bei­spiel führ­te der erfah­re­ne poli­ti­sche Bera­ter die Kon­fe­renz von Buka­rest von 2008 an, an wel­cher er für die deut­sche Dele­ga­ti­on teil­nahm. Auf der Kon­fe­renz bewar­ben sich Geor­gi­en und die Ukrai­ne für den Bei­tritt zur NATO, was Deutsch­land und Frank­reich per Veto ablehn­ten. Auf Antrag der USA-Dele­ga­ti­on sei­en die bei­den Veto-Mäch­te dann in einer spät­abend­li­chen Zusatz­ver­hand­lung unter Aus­schluss aller Mili­tär­ex­per­ten gedrängt wor­den, einer abge­än­der­ten For­mu­lie­rung für das Abschluss­pro­to­koll zuzu­stim­men. In die­sem Papier wur­de trotz des zwei­fa­chen Vetos sou­ve­rä­ner NATO-Mit­glie­der eine Bei­tritts­per­spek­ti­ve festgeschrieben.

Der lang­jäh­ri­ge Diplo­mat und ehe­ma­li­ge OSZE-Bot­schaf­ter Lüde­king hält einen lan­gen Krieg für wahr­schein­lich und sieht auf­grund des plan­lo­sen mili­tä­ri­schen Vor­ge­hens wei­te­re Eska­la­ti­ons­ge­fah­ren. Durch den stu­fen­wei­sen wech­sel­sei­ti­gen Ein­satz wei­te­rer Waf­fen­ka­te­go­rien kön­ne sich die Situa­ti­on wei­ter hoch­schau­keln. Auch die Gefahr eines Atom­waf­fen­ein­sat­zes sieht der Ex-Mili­tär nach wie vor nicht gebannt. Per­spek­ti­visch sieht Lüde­king kei­ne mul­ti­po­la­re Ord­nung im Ent­ste­hen begrif­fen, son­dern eine Ten­denz hin zu einer pre­kä­ren bipo­la­ren Situa­ti­on. Auf Nach­fra­ge von Prof. Var­wick an die gesam­te Run­de gaben alle drei Refe­ren­ten ihre Ansicht , dass die jet­zi­ge Situa­ti­on weit­aus gefähr­li­cher sei als die Kon­fron­ta­ti­on des Kal­ten Krie­ges. Denn von einem sta­bi­li­sie­ren­den 'Gleich­ge­wicht des Schre­ckens' kön­ne heu­te im Gegen­satz zu damals kei­ne Rede sein.

In der anschlie­ßen­den Dis­kus­si­on stell­te Prof. Var­wick deut­lich klar, dass aus sei­ner Sicht der ent­schei­den­de Zivi­li­sa­ti­ons­bruch durch Russ­land began­gen wur­de durch den völ­ker­rechts­wid­ri­gen Akt, bei einem Angriffs­krieg Gren­zen ver­schie­ben zu wollen.

Der im Publi­kum anwe­sen­de Hal­len­ser Bür­ger Frank-Uwe Neis teilt zwar die­sen grund­le­gen­den Stand­punkt, dass ein Angriffs­krieg nie­mals tole­riert wer­den kön­ne. Den­noch mache es sich der Wes­ten aus sei­ner Sicht zu ein­fach, mit dem Fin­ger auf Russ­land zu zei­gen und sich dabei in sei­nen eige­nen Wer­ten zu son­nen. Das ent­spre­che weder den Tat­sa­chen noch kön­ne es ziel­füh­rend sein für Frie­dens­ver­hand­lun­gen. Denn die Wider­sprü­che lägen auf der Hand: Der Wes­ten habe lan­ge vor­her damit begon­nen, eine immer natio­na­lis­ti­scher wer­den­de Ukrai­ne zu unter­stüt­zen so wie bereits auf dem Bal­kan in den neun­zi­ger Jah­ren jed­we­der Natio­na­lis­mus ( mit Aus­nah­me des ser­bi­schen, Anm. d.Red.) und Sepa­ra­tis­mus unter­stützt wur­de, was zum blu­ti­gen Bür­ger­krieg führ­te. Und im Jahr 1999 sei es eben­falls eine west­li­che Alli­anz gewe­sen, die zum ers­ten Mal nach 1945 ein sou­ve­rä­nes Land in Euro­pa mit Bom­ben angriff, um Gren­zen zu ändern und das Koso­vo aus Jugo­sla­wi­en her­aus­zu­lö­sen. Neis ist über­zeugt davon, dass die­ses Vor­ge­hen damals eine Blau­pau­se für Russ­land dar­stell­te, sei­ne Inter­es­sen eben­so krie­ge­risch durch­zu­set­zen – frei nach der Logik: was der Wes­ten darf, das kön­nen wir uns auch erlauben...

Auf die Fra­ge nach mög­li­chen Stra­te­gien plä­dier­ten die drei gela­de­nen Refe­ren­ten im gut gefüll­ten Saal des Melan­ch­to­nian­ums für mehr euro­päi­sche Sou­ve­rä­ni­tät. Auch das sieht Neis skep­tisch, denn dafür bräuch­te es so etwas wie ein geschlos­se­nes euro­päi­sches Han­deln in Abgren­zung zu den Ver­ei­nig­ten Staa­ten. Somit kon­sta­tiert er: „Weil wir kei­ne Real­po­li­tik betrei­ben, bege­ben wir uns in eine Situa­ti­on wo wir äuße­ren Zwän­gen aus­ge­setzt wer­den. Die Ent­schei­dun­gen fal­len in Mos­kau, Washing­ton und Peking, und wir als Euro­pä­er müs­sen zugu­cken und war­ten, wann der Krieg endet.“

> Das wei­te­re Pro­gramm der Ringvorlesung

 

Kommentar verfassen