Im Jahre 2021 ist es in Halle (Saale) nicht möglich, in einer öffentlichen Klinik eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Um einen Arzt oder eine Ärztin dafür zu finden, sind Frauen gezwungen, sich im Umland umzuschauen. Auch das gesellschaftliche Klima wird zunehmend repressiver beim Thema Abortion. Ärzt*innen, die aufklären und informieren möchten, können angezeigt werden. Frauen, die offen mit dem Thema umgehen, setzen sich Gefahren aus. Und es macht sich ein neuer Sexualkonservatismus breit, von Konservativen über die Mitte bis ins linke Spektrum..
Doch es passiert nicht nur Frauen, die vergewaltigt werden, sondern auch denen, die gern freiwillig Sex haben. Warum? Sind sie zu blöd zum Verhüten? Oder haben sie keine Verhütungsmittel, weil sie sich diese nicht leisten können? Oder sind es gar religiöse Gründe, weshalb Verhütung nicht infrage kommt? Manchmal ist aber auch nur die Lust so groß, dass das Denken über Verhütung den zeremoniellen Geschlechtsakt stören würde, und schon ist es passiert. Dass ein Kondom platz, die Pille nicht wirkt, die Spirale verrutscht oder der Zyklus falsch errechnet wurde, kann zwar passieren, ist aber seltener der Fall. Selbst in der sogenannten unfruchtbaren Zeit ist hin und wieder ein Follikelsprung möglich und schwups ist es passiert, und sie ist schwanger. So erging es mir...
1971 noch 'Verbrecherinnen': Romy Schneider, Senta Berger, Simone de Beauvoire oder Catherine Deneuve
Dabei hatte mein Mann aufgepasst, dass sich nicht der ganze Samenerguss auf das Ei stürzen konnte. Aber was half es? Es gibt eben sehr fruchtbare Wesen. So auch Romy Schneider, Senta Berger, Simone de Beauvoire oder Catherine Deneuve, vier der 343 Frauen, die am 5. April 1971 im „Stern“ öffentlich erklärten: „Ich habe abgetrieben.“* Das war damals überaus mutig, denn diese Frauen wurden nicht nur als Verbrecherinnen bezeichnet, es drohten ihnen auch, je nach Land und Gesetzgebung, bis zu fünf Jahren Haft. In der alten Bundesrepublik gab es dennoch jährlich bis zu eine Million Abtreibungen. Nicht wenige Frauen starben oder erkrankten an den Folgen laienhafter Eingriffe. Nur die, die es sich leisten konnten, hatten im In-oder Ausland die Möglichkeit, einen fachärztlichen Eingriff vornehmen zu lassen.
In der DDR sah es zu dieser Zeit ganz sicher ähnlich aus. Und im Jahre 2021 ist es in Halle/Saale nicht möglich, in einer öffentlichen Klinik eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Um einen Arzt oder eine Ärztin dafür zu finden, sind Frauen gezwungen, sich im Umland umzuschauen. Noch schlimmer ist, sie wagt es kaum darüber zu reden, weil sie wie einst verbalen und tätlichen Angriffen ausgeliefert sein könnte und die Praxis, in der der Schwangerschaftsabbruch vorgenommen wird, könnte in Verruf geraten. Und das im 21. Jahrhundert! Ein öffentliches Bekenntnis von Frauen; „Ich habe abgetrieben.“ wird wohl bald wieder nötig sein.
Mit 18 das erste Kind?
All das erinnert mich an meine Geschichte, die ganz sicher viele Frauen mit mir teilen. Mit 18 bekam ich das erste Kind und war gerade in der Berufsausbildung. Mit 19 habe ich geheiratet. Unterlag ich doch noch den gesellschaftlichen Zwängen, als anständige Frau gelten zu wollen, und nicht als sitzen gelassene mit Kind. Ein Glück, dass der Kindesvater mich wollte. Mit 22 hatte ich bereits zwei kleine Töchter, eine abgeschlossene Fachschulausbildung als Kinderpflegerin und verdiente für damalige Verhältnisse genug, um meine Familie versorgen zu können. Mein Ehemann studierte in Dresden und lebte von seinem Stipendium, während ich mit den Kindern in Halle zu Hause war. Wir waren also über Jahre eine Wochenendfamilie. Das machte mir nichts aus, weil ich die Ehe nie als unlösbare Instanz sah. Und wer wollte bestimmen, wie lange ich mit wem zusammen lebte, wenn nicht ich selbst. Mir war aber klar, dass ich für meine beiden Kinder immer sorgen wollte, das musste und das auch schaffen würde, nicht aber für drei oder mehr Kinder.
Ich selbst wuchs als Einzelkind mit alleinerziehender Mutter auf und fühlte mich sehr oft einsam. Das war wohl auch ein Grund weshalb ich mir unbedingt zwei Kinder wünschte. Welchen Geschlechts das zu erwartende Kind sei, wurde damals nicht untersucht. Es wurde nur gerätselt und Hauptsache gesund. Ganz im Gegensatz zu heute, wo die Mehrheit der werdenden Mütter das Geschlecht beizeiten beim Föten feststellen lassen, was immer unproblematischer möglich ist. Natürlich geht nur männlich oder weiblich. Von divers ist mir jedenfalls noch nichts bekannt. Ich wünschte mir ganz klassisch einen Jungen und ein Mädchen. Letztendlich war ich glücklich, dass es zwei Mädchen waren, aber niemals wäre ich auf die Idee gekommen weiterhin zu probieren, ob da nicht vielleicht noch ein Junge käme.
Nicht noch einmal...
Doch ich wurde ein drittes Mal schwanger. Das war eine Katastrophe. Der Gynäkologe Dr. Schwenker konnte das am 14. Dezember 1970 bestätigen. Ich war außer mir. Weihnachten und Silvester standen vor der Tür, und ich lebte nur noch wie im Trance. Für mich war klar, ein Kind bekomme ich nicht noch einmal. Zusätzlich war die Erinnerung der neunmonatigen Schwangerschaft für mich ein Gräuel. Beim zweiten Kind musste ich wegen der Krampfadern auch noch lange Gummistrümpfe tragen und das den ganzen Sommer über. Kinderkriegen war für mich kein Vergnügen. Werdende Väter haben ja nicht die neun Monate vor sich, mit Übelkeit und Körperveränderungen. Heute, nach über 50 Jahren, sieht meine Sich auf Körperveränderungen schon etwas anders aus. Kaum zu glauben, dass es Vätern damals noch Überwindung kostete, sich mit einer dickbauchigen Frau zu zeigen. Deshalb trugen werdende Mütter Umstandskleidung, die weit genug waren, um eine Schwangerschaft möglichst lange zu vertuschen. Ich kannte meinen Körper gut, und wusste sofort, dass es passiert war. Zunächst hoffte ich auf Hilfe von meinem Frauenarzt. Dr. Schwenker war ein großer gutaussehender eleganter Arzt, der bei all seinen Patientinnen sehr beliebt war. Wir flirteten sogar etwas miteinander. Er war ledig, hatte aber eine Freundin, seine Helferin Fräulein Berger. Fräulein Berger war sehr auffällig in ihrer Art, auch chic gekleidet und übermäßig geschminkt. Sie und ihre Mutter beeindruckten im Stadtbild besonders mit ihren extravaganten Hüten. Für mich war es immer ein kleines Fest, die Frauen zu beobachten und diese Beziehung der beiden zu dem Arzt war mir damals ein Rätsel. Dieser Gynäkologe war der Arzt meines Vertrauens, und ich konnte mich ihm gegenüber auch wegen sexueller Probleme öffnen. Die 68er Bewegung im Westen färbte natürlich auch auf den Osten ab, und ich war kein Kind von Traurigkeit. Manchmal war es sehr angenehm, von jemandem in den Arm genommen zu werden, aber dann war es auch meist schnell passiert.
Auf der Suche nach Hilfe..
Mein außerehelicher Geschlechtsverkehr bereitete mir immer ein schlechtes Gewissen. Und als hätte ich es geahnt, holte ich mir vom Arzt meines Vertrauens eine Art Absolution. Dr. Schwenkers Rat auf mein „Fremdgehen“ war nur: „Moralisch ist das nicht gut, aber für ihre Gesundheit wichtig.“ Das war zwar kein Freibrief, hatte mein Gewissen aber ungemein erleichtert, auch wenn ewig Schuldgefühle an mir nagten.“ Was die erneute Schwangerschaft anbetraf, diesbezüglich hielt er sich bedeckt. Einen Antrag auf Unterbrechung hätte ich stellen können, das wußte ich. Aber da ich weder krank noch kinderreich war, war eine amtliche Genehmigung aussichtslos für die Interruption. Also ging ich auf die Suche, doch wo nur? Inzwischen hatte das neue Jahr begonnen. Mir war nicht nur ständig übel, die Ängste, die ich ausstand, konnte wirklich nur die Frau verstehen, die gleiches durchlebt hatte. Außerdem musste ich auf Arbeit und im Alltag funktionieren. Mir war klar, wenn mir keiner hilft, muss ich mir selbst helfen. Auf professionelle medizinische Hilfe konnte ich also nicht hoffen. Also versuchte ich es zunächst mit altbekannten Hausmitteln. Pulsatilla d4, oder so ähnlich, war ein Mittel welches den Einsatz der Wehen hätte befördern können. Darüber tuschelten wir schon als Jugendliche in der Schule. So etwas war in der Apotheke erhältlich. Rotwein trinken, heiß baden und von der Treppe springen, half anderen vielleicht, mir nicht. Ich hatte es mehrfach probiert, war aber eher albern. Schon die Alten sagten immer; „Was sitzt, das sitzt.“ Ich wollte eben nichts unversucht lassen, bevor ich zum Äußersten griff.
Natürlich wusste ich aus der Frauengeschichte, dass Frauen sich mit Stricknadeln den Unterleib zerstachen. Das war natürlich keine Option, aber was denn dann? Ein Kollege, ich arbeitete inzwischen im Internat der Gehörlosenschule in Halle, hatte mich im Club der Journalisten und Künstler eingeführt. Der befand sich damals in der obersten Etage des „Hauses der Presse“ am Leipziger Turm. Einlass fanden dort nur Presseleute, die von Funk und Fernsehen, Theater und wenige andere. Gerda Funke war die Grande Dame am Einlass, die entschied, wer rein durfte. Mein Kollege hatte mit ihr ein Verhältnis und für mich wurde Gerda eine mütterliche Freundin. So verbrachten wir nach meinen Spätdiensten dort oft die Zeit in illustren Kreisen bis zum Morgen. Wenn die Männer, unter anderem auch der Schauspieler Wolfgang Winkler, noch einen dritten Mann zum Skat suchten, durfte ich einspringen. Das waren für mich die kleine Sternstunden, wenn ich mitspielen durfte, weil ich eigentlich gar nicht so gut war. Vor allem wurde viel getrunken und es gab das Standardessen - gebratene Wurst auf Brot mit Spiegelei und Letscho. Ich wohnte damals noch in der Dreiraumwohnung meiner Mutter, so dass meine Töchter in der Spätdienstwoche abends versorgt waren und ich meinen Vergnügungen nachgehen konnte. Nur war es gerade seit Wochen kein Vergnügen, und ich hoffte täglich auf Erlösung, die nicht kam. Mit meiner Mutter sprach ich nie über meine Probleme, weil ich mich schämte. Aber meine Mutter wusste Bescheid. Sie wusste auch, dass ich mir selbst helfen würde und Hand anlege, mich irgendwie durchboxe. In ihren Augen hatte meine Lust auf Leben und Nähe zum anderen Geschlecht immer etwas Anrüchiges. Das resultierte aus ihrer Erfahrung mit Männern, die nicht positiv war. Mich verletzte es sehr als sie mal meinte: „Du wirst mir schon mit 13 ein Kind anbringen.“ Ich war dann 18 als das erste Kind kam und damit fühlte sich meine Mutter ein wenig bestätigt, aber sie unterstützte mich sehr.
"Es machte mich wütend, dass Verletzten geholfen wurde, die auch selbst Schuld an ihrem Zustand hatten. Ungewollt schwanger war für mich auch wie eine Verletzung. Nur wollte mir diesbezüglich keiner helfen."
Ich suchte also anderweitig Verständnis und nach Hilfe in meiner Situation. Gerda aus dem Club gab mir einige Tipps und machte mir Mut. Außerdem hatte ich eine mittlere medizinische Ausbildung und war nicht gänzlich blöd. In unserer Hausapotheke befand sich seit ich denken kann ein Abtreibungsbesteck, ähnlich einer Klistierspritze. Das Ding hatte ich immer gesehen aber ignoriert. Doch irgendwie fand sich alles zu seiner Zeit. Nie wollte ich wissen, wofür das Gerät da war und plötzlich leuchtete mir das ein. Es stammte noch aus den 40er Jahren, und meine Mutter hatte gewusst warum sie das aufgehoben hatte. Schließlich waren die Gesetze bezüglich ungewollter Schwangerschaften immer noch die aus dem letzten Jahrhundert. Später erfuhr ich, dass meine Mutter und meine Großmutter auch abgetrieben hatten. Inzwischen war ich die zehnte Woche schwanger und begann die ersten Versuche die Gebärmutter zu greifen, um den Muttermund zu öffnen. Ein mühseliges Unterfangen! Die Gebärmutter dreht sich oft so, dass der Eingang des Muttermundes nicht zu fassen war. Wichtig ist, mit dem doch recht stumpfen Teil der Spritze in den Muttermund zu gelangen und sei es nur ein wenig. Nach tagelangen Übungen gelang es mir, das Ding an den Muttermund zu bekommen, um von einer zweiten Person mit Druck auf den Gummiball etwas Desinfektionslösung in die Gebärmutter einzuspritzen. Mit einem sofortigen heißen Bad bekam ich dann auch wehenartige Schmerzen, und wir riefen einen Krankenwagen. Es war inzwischen der 27. Februar und ich fast in der 12. Woche. Es war also höchste Zeit. Mit Vermutung auf Fehlgeburt wurde ich in die Unifrauenklinik eingeliefert. Die erste Untersuchung ergab sofort, dass ich selbst Hand angelegt hatte, aber eine Rettung der Frucht nicht möglich war. Vom Arzt wurde ich gelöchert, von wem und wo ich Hilfe bekam. Man wusste natürlich, dass ich das niemals hätte allein vollbringen können. Selbst Hand an sich legen war nicht strafbar, aber für eine helfende Person wäre das nicht glimpflich ausgegangen. Bis in die 40er Jahre stand darauf teilweise die Todesstrafe. In der alten Bundesrepublik gab es einen zunehmenden Abtreibungstourismus. Doch wo hätte ich als DDR-Bürgerin hinreisen können? Und das Geld dafür hatte ich schon gar nicht.
„Machen Sie sich keine Gedanken darüber, die ganze Station liegt voll mit solchen Fällen."
Also beharrte ich, bis heute darauf, es allein getan zu haben. Das wurde mir zwar nicht abgenommen, aber man beließ es dabei. In der Klinik fuhr man mich in einen verdunkelten Raum und ich kam an einen Tropf. Eine Schwester kontrollierte in kurzen Zeitabständen Blutdruck und anderes, und ich wälzte mich vor Schmerzen hin und her. Es war grauenvoll, ich heulte und schämte mich dieser Tat. Es war unsäglich schlimm, so ausgeliefert sein zu müssen. Als ich das der Schwester mitteilte, meinte sie sehr liebevoll und freundlich. „Machen Sie sich keine Gedanken darüber, die ganze Station liegt voll mit solchen Fällen. Ich mache die Tür zu und sie können laut schreien. Durch diese Tür hört man nichts und bald haben sie es überstanden.“ Und so war es auch. Ich hatte es geschafft die Fehlgeburt einzuleiten und die Wehen taten das übrige. Danach kam ich in ein 7- Bettzimmer in der Krukenbergstraße, einer Außenabteilung der Universitäts- Frauenklinik. Drei Wochen brachte ich dort zu, und ich war nicht traurig unter all den Frauen, die allerdings unterschiedliche Probleme hatten. Aber wir waren auf dem Weg der Genesung und genossen die Zeit im Bett. Ausgiebig schlafen dürfen, Essen ans Bett, lesen nach Herzenslust und wir spielten auch Karten. Zwei der Mitpatientinnen rauchten heimlich auf der Toilette und eine ließ sich immer mal ein Bier von ihrem Besuch mitbringen. Fernseher gab es natürlich nicht. All das genoss ich sehr vor dem Arbeitsalltag, der mich draußen wieder erwartete.
Das Abschlussgespräch führte Oberarzt Dr. Keller und malte dieses Horrorszenario so richtig aus, dass meine Kinder hätten Halbwaisen sein können. Wie konnte ich auch Verständnis oder Trost erwarten? Schon immer war meine Angst, dass ich es nicht schaffen würde, meine Töchter groß zu kriegen, immer gesund zu bleiben. Das war im Arbeitsalltag immer Thema für mich. Zum Arbeiten war ich dennoch fit und bekam dafür zu Festtagen genügend Anerkennung. Was eine künftige Verhütung anbetraf, da rieten mir Gynäkologen von der Pille ab, weil ich an einem Bein Krampfadern hatte und das nicht günstig wäre. Sexuelle Enthaltsamkeit wäre eine optimale Option gewesen.
"Lieben sie keine Kinder?"
Doch es kam schlimmer. Etwa zwei Monate später, am 27. Mai stellte Dr. Schwenker erneut eine Schwangerschaft bei mir fest. Väterlich meinte er nur. “Das machst du aber nicht wieder.“ Nein, das hätte ich selbst nicht noch einmal gewagt. Er empfahl mir den offiziellen Weg und versprach, eine Unterbrechung zu befürworten, da er in der Kommission saß, die das zu entscheiden hatte.
Ich besorgte mir ein Gutachten, welches besagte, dass auf Grund der Krampfadern, meiner Vollbeschäftigung und der zwei kleinen Kinder eine weitere Belastung nicht günstig wäre. Da ich ansonsten gesund war, konnte ich zusätzlich nur betonen, dass ich kein weiteres Kind wolle. Die 11. Schwangerschaftswoche war heran als ich den der Termin vor die Kommission zur Anhörung bekam. Mein Ehemann begleitete mich. Auf einem Gang in der Poliklinik der Reilstraße warteten wir mit noch zwei weiteren Frauen. Es hatte sich herausgestellt, dass mein behandelnder Gynäkologe zum damaligen Saalkreis von Halle gehörte und ich vom Einzugsbereich zur Stadt Halle. Und somit war OB Dr. Keller, der mir die Folgen einer Unterbrechung erst gruslig geschildert hatte und nicht Dr. Schwenker im Vorsitz der Kommission. Das war ein Schock für mich. Als wir den Raum betraten saßen hinter einem langen Tisch gefühlt fünf weitere Herren Ärzte, oder auch mehr. Vor mir ein Tribunal alter Männer! Zumindest kamen sie mir alle alt vor, mir als 23-Jährigen. Mein Ehemann war wie ein Zeuge im Hintergrund. Nun kamen Fragen über Fragen. Konnten sie nicht aufpassen, nicht verhüten? Lieben sie keine Kinder? Sie haben doch Kinderpflegerin gelernt? Man spielte auf die sozialistische Erzieherpersönlichkeit an und damit dass jedes Kind doch willkommen sein sollte in diesem unserem Staat. Wie sollte ich mich nur wehren? Generell waren ja mehrere Kinder nicht das größte Elend, aber ich hatte anderes in meinem Leben vor. Ich führte ins Feld, dass ich nicht wisse, ob die Ehe aufrecht zu erhalten sei, und mich nicht in der Lage sähe für mehrere Kinder zu sorgen. Außerdem wollte ich ein Fernstudium aufnehmen und das nicht wieder, wie die Fachschulzeit, als schwangere durchziehen. Nichts half. Die Unterbrechung wurde abgelehnt.
Ich war wieder fix und fertig mit den Nerven und heulte zu Hause nur noch. Für meine Töchter muss das genauso traumatisierend gewesen sein. Was sollte ich noch machen? Ich hatte Selbstmordgedanken, wollte das meinen Kindern aber nicht antun. Meine Mutter spürte meine Ängste um mein Leben. Und das muss schlimm für sie gewesen sein, denn ich war ihre einzige Tochter. Fremde, gar Vorgesetzte um etwas zu Bitten, muss sie ebenfalls zum Äußersten getrieben haben. Zu Beginn der 12. Woche kam sie mit einem geschlossenen Briefumschlag nach Hause, den sie mir von ihrem Chef dem Bezirksarzt Dr. May gab. Den muss sie regelrecht angefleht haben. Mit diesem Brief sollte ich mich in der Nervenklinik der Julius-Kühn-Straße melden, was ich auch tat. Dort wurde ich das erste Mal von einem Arzt freundlich empfangen. Weinend und inzwischen sehr geschwächt war mit mir nichts mehr los. Ich ließ die Aufnahmeuntersuchungen stoisch über mich ergehen. Der Brief war für Professor Rennert, dem leitenden Direktor der Klinik. Vom 28.07.71 bis 02.08.71, also fünf Tage lag ich dort in einem Mehrbettzimmer und hoffte auf Erlösung. Nach etwa drei Tagen stand der Chefarzt bei der Visite vor meinem Bett und fragte nur: „Wollen sie das Kind?“ Ich schüttelte mit dem Kopf und verneinte. Das war alles.
Gnade gefunden
Am 02.08.71 begab ich mich, wieder mit einem verschlossenen Brief, in die Universitätsfrauenklinik. Dort wurde ich wie ein exotisches Wesen von einer ganzen Studentenriege untersucht. Alle durften mal im meinem Unterleib rumwühlen. Da ich bereits die 12. Woche überschritten hatte, wurde eine Unterbrechung von den anwesenden Ärzten abgelehnt. Stunden später wurde ich wiederholt zur Untersuchung geführt. Als ich, die Beine gespreizt in der Luft, auf dem Gynäkologiestuhl lag, um mich herum wieder Studierende, trat der Chefarzt, damals wohl noch Oberarzt, Dr. Radzuweit vor mich. Er zog sich die Gummihandschuh über und mit erhobenen Händen, bereit zur Untersuchung, hielt eine Schwester ihm den von mir mitgebrachten Brief förmlich unter die Nase. Er sprach kein Wort. Ich sah, wie seine Augen von oben nach unten glitten, unten angekommen untersuchte er mich, zog danach seine Handschuh aus und sagte nur in die Runde: „Interruptio gravidez.“ Die Unterschrift von Professor Rennert hatte das Wunder bewirkt. Ich weinte nur noch, aber auch vor Erleichterung. Doch leicht wurde es mir nicht gemacht. Mir wurde bei vollem Bewusstsein ein metallähnlicher Gegenstand in die Gebärmutter geschraubt. Etwa zwölf Stunden brachte ich so zu, konnte nicht sitzen und nicht zur Toilette laufen. Die Schmerzen ertrug ich und hoffte in Ohnmacht zu fallen, wenn sie das Ding wieder raus holen. Zum Glück wurde ich dabei narkotisiert. Bei der Entlassung nach 12 Tagen fragte mich ein Arzt beim Abschlussgespräch, warum das bei mir gemacht worden wäre und hatte selbst gleich die Antwort parat. „Ach so, Gnade gefunden.“ Und so war es tatsächlich.
Dann kam die Fristenlösung
Etwa sieben Monate später wurde in der DDR die Fristenlösung eingeführt. Ich entschied mich trotz meiner Krampfadern für die Pille, wurde auch nie wieder schwanger, lebte aber 26 Jahre in Angst davor, es zu werden, trotz Pille und Spirale. Eine Totaloperation, für manch eine Frau sehr traurig, war für mich wie eine Befreiung. Und wie sieht es im 21. Jahrhundert für Frauen aus? Für ein Abtreibungsverbot gehen wieder weltweit Kreuze schwingende Frauen und Männer auf die Straße. Neuer Sexualkonservatismus macht sich breit, von Konservativen über Mitte bis ins linke Spektrum bei Themen wie Pornographie, Prostitution und Vergewaltigung. Es gibt noch einiges zu tun!
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Ich bin 71 Jahre, habe 4 Kinder und denke heute mit Schrecken darüber nach, daß auch ich aus Angst und Verzweiflung abgetrieben habe. Mit Pulsatilla D4, einer Stricknadel und einem Glistierball mit Kern-Seifenlauge. Alle drei Abbrüche sind mir gelungen. Bei letzteren war ich in Lebensgefahr und lag in der UNI- Leipzig. Meine Großeltern erhielten von der Klinik eine Schlechtmeldung. Ich hatte weniger Angst, zu sterben, als ein lediges Kind zu bekommen. Heute weiß ich, wie sehr ich mit meinem Leben gespielt habe und es tut mir leid.