Ede­ka um vier­tel nach zehn. Wie mich TTIP zum euro­päi­schen Wut-Citoy­en machte

Eigent­lich hat­te ich ja geschafft, das The­ma TTIP und CETA erfolg­reich zu ver­drän­gen. Zu viel zu tun, Kind & Kegel, eh alles schlimm gera­de, Frei­han­del hin oder her. Bis mein Nach­bar und beruf­li­cher Part­ner mich mit sei­ner Sach­kennt­nis über­rasch­te, mich auf­klär­te, mir mit kla­ren Wor­ten ent­schei­den­de Hin­wei­se gab und mich außer dem mit dem Vor­ha­ben kon­fron­tier­te, Unter­schrif­ten am euro­pa­wei­ten Akti­ons­tag sam­meln zu wol­len. Ich konn­te nicht län­ger zurück­ste­hen und schloss mich spon­tan an.

Das Campact!-Paket, wel­ches mein Part­ner bestellt hat­te, ent­hielt alles, was pro­tes­tie­ren­de Bür­ger so brau­chen: Papp­schil­der zum Umhän­gen, Klemm­bret­ter, jede Men­ge Kugel­schrei­ber, Inf­o­fly­er und die ent­schei­den­den Unterschriftenbögen.

Sams­tag­mor­gen zehn Uhr vor einem deut­schen Super­markt zu ste­hen, ist eine muti­ge Ent­schei­dung. Die Men­schen sind ver­ka­tert oder par­tymü­de, haben zum Teil blut­un­ter­lau­fe­ne Augen, einen Bären­hun­ger oder waren noch gar nicht im Bett. Womit die Leu­te anspre­chen und nicht gleich ver­schre­cken? Ich pro­bier­te es zuerst mit „Ver­brau­cher­schutz“, dann mit „Demo­kra­tie und Recht­staat.“ Nur nicht gleich mit schwe­rer Poli­tik ins Haus fal­len, immer nett und freund­lich blei­ben. Mein Part­ner fand eine viel ein­fa­che­re Metho­de her­aus: Er wünsch­te einen Guten Mor­gen. Das zog. Aber auch ich hat­te Erfolg. Etwas für die Demo­kra­tie zu tun, wer kann da schon nein sagen?

Unterm Strich lief es gut. Vie­le Men­schen waren bereits alar­miert, woll­ten auch ohne lan­ge Über­zeu­gungs­ar­beit ihre Unter­schrift set­zen. Die­je­ni­gen, die uns igno­rier­ten, taten das aus Unkennt­nis oder Vor­sicht. Man­che frag­ten skep­tisch und beka­men dann aber schnell Ver­trau­en. In kur­zer Zeit hat­ten wir mehr als 70 Unter­schrif­ten auf den Bögen, die ver­teil­ten Fly­er noch gar nicht mitgezählt.

Je län­ger ich aktiv als Pro­test­ler dastand, umso stär­ker auch mei­ne eige­ne gedank­li­che Reflek­ti­on. Was für ein unge­heu­rer Vor­gang, dass unse­re regie­ren­den Ver­tre­ter mal eben die bestehen­den Umwelt- und Ver­brau­cher­schutz­nor­men, das Rechts­sys­tem, die Kom­mu­nal- und Tarif­au­to­no­mie und letzt­lich unse­re gesam­te par­la­men­ta­ri­sche Demo­kra­tie durch bila­te­ra­le gehei­me Ver­trags­wer­ke in Fra­ge stel­len. Im Radio und TV wird gro­tes­ker­wei­se der­weil an die Wen­de­zeit erin­nert und das Lied­chen von der fried­lich erober­ten Frei­heit und Recht­staat­lich­keit zum 24sten Mal wiederholt ...

Eines habe ich in dem Vier­tel­jahr­hun­dert Nach­wen­de­zeit mit Bestimmt­heit begrif­fen. Dass eine per Kon­sti­tu­ti­on unab­hän­gi­ge juris­ti­sche Instanz auf der Grund­la­ge all­ge­mein aner­kann­ter und ver­bind­lich fest­ge­leg­ter Nor­men einen abso­lu­ten Wert dar­stellt, der ver­tei­digt wer­den muss. Für die­se Idee strit­ten Kant, Locke und Mon­tes­quieu, aber auch die Bas­til­le-Erobe­rer oder Gefan­ge­nen in Baut­zen. Offen­bar wird die­se evo­lu­tio­nä­re Errun­gen­schaft nicht nur von Got­tes­krie­gern oder poli­ti­schen Extre­mis­ten ange­grif­fen. Wenn heu­te aus­schließ­lich auf Gewinn­ma­xi­mie­rung aus­ge­rich­te­te Kör­per­schaf­ten nicht nur eige­ne Pri­vat­ar­me­en und Geheim­diens­te, son­dern auch ihre eige­ne Gerichts­bar­keit instal­lie­ren und wir dies per Ver­trag aner­ken­nen, bege­ben wir uns frei­wil­lig in einen neu­en Absolutismus.

Die Anti-TTIP-Bewe­gung ist also wesent­lich mehr als der Schrei von Grün­wäh­lern nach siche­rem Bio-Huhn. Ange­sichts der Gefah­ren für Demo­kra­tie und Rechts­staat kann sie zur Geburts­stun­de eines gänz­lich neu­en, euro­päi­schen Citoy­en-Bewusst­seins wer­den. Wenn gera­de auf dem gan­zen Kon­ti­nent die Men­schen für eine gemein­sa­me Volks­ab­stim­mung Unter­schrif­ten sam­meln, ist dies allein schon ein star­kes Signal. Ein Euro­pa von unten – als poli­ti­sche Nati­on gedacht, die sich selbst nicht nur eine Ver­fas­sung, son­dern ein mit gesetz­ge­ben­den Rech­ten aus­ge­stat­te­tes Par­la­ment und eine ver­bind­li­che euro­pa­weit wir­ken­de und durch­setz­ba­re Rechts­norm gibt – ist das nicht die logi­sche und not­wen­di­ge Fort­set­zung der Auf­klä­rung und der poli­ti­schen Pro­zes­se seit dem Mit­tel­al­ter und eine Ant­wort auf den Sog der Glo­ba­li­sie­rung? Immer dann, wenn in den letz­ten 200 Jah­ren der Rechts­staat im Diens­te einer ver­meint­lich höhe­ren Idee beschnit­ten wur­de, lan­de­ten wir in der Bar­ba­rei. Macht man sich die­se gro­ße his­to­ri­sche Linie in aller Kon­se­quenz klar, steht man auf ein­mal nicht mehr als ver­meint­li­cher Anti-Ame­ri­ka­ner, son­dern sogar als Ver­tei­di­ger der ursprüng­li­chen ame­ri­ka­ni­schen Idee (sie­he Ver­fas­sung von 1788 unter „Gewal­ten­tei­lung“) auf der Stra­ße, die von Wirt­schafts­mäch­ten gera­de ad absur­dum geführt wird.

Jörg Wun­der­lich

www.stop-ttip.org
selbst­or­ga­ni­sier­te euro­päi­sche Bür­ger­initia­ti­ve, getra­gen von 290 poli­ti­schen und zivil­ge­sell­schaft­li­chen Organisationen
Ziel: 1 Mil­li­on Unter­schrif­ten, damit die EU-Kom­mis­si­on das The­ma auf die Tages­ord­nung set­zen muss.

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